Erst 2005 wurde die Umweltcharta, der jüngste der vier Texte des Verfassungsblocks, in die Präambel der Verfassung von 1958 aufgenommen.
Das Vorhaben, die Umweltproblematik in unsere verfassungsrechtlichen Grundlagen zu integrieren, geht auf den 3. Mai 2001 zurück. An diesem Tag brachte der damalige Staatspräsident Jacques Chirac in einer Rede in Orleans seinen Willen zum Ausdruck, eine Umweltcharta ins Leben zu rufen. Diese Ankündigung wurde zu einem seiner Wahlversprechen im Präsidentschaftswahlkampf von 2002.
Der Entwurf der Umweltcharta wurde in vierjähriger Arbeit von einer eigens eingerichteten Kommission aus Wissenschaftlern, Akademikern und Akteuren der Zivilgesellschaft unter dem Vorsitz von Prof. Yves Coppens erarbeitet, die von einem juristischen und einem wissenschaftlichen Ausschuss beraten wurde.
Dazu wurde in ganz Frankreich die Meinung der französischen Bevölkerung eingeholt.
Anschließend wurde 2004 der Entwurf der Nationalversammlung und dem Senat zugeleitet.
Im darauffolgenden Jahr verabschiedete das in Versailles zu einem Kongress versammelte Parlament mit 531 Stimmen und 23 Gegenstimmen die Aufnahme der Umweltcharta in die Präambel der Verfassung von 1958.
Als letzte Etappe des verfassungsrechtlichen Verfahrens wurde die Charta schließlich am 1. März 2005 von Staatspräsident Jacques Chirac verkündet.
Wortlaut
Angenommen vom Parlament
Verkündet vom französischen Staatspräsidenten als Verfassungsgesetz mit folgendem Inhalt:
Artikel 1
Der erste Absatz der Präambel der Verfassung wird durch folgende Worte ergänzt: „sowie mit den in der Umweltcharta von 2004 festgelegten Rechten und Pflichten“.
Artikel 2
Die Umweltcharta von 2004 lautet wie folgt:
Das französische Volk –
In Erwägung dessen,
Dass die natürlichen Ressourcen und das natürliche Gleichgewicht Voraussetzungen für die Entstehung der Menschheit waren;
Dass die Zukunft und der Fortbestand der Menschheit untrennbar mit ihrer Umwelt verbunden sind;
Dass die Umwelt das gemeinsame Erbe aller Menschen ist;
Dass der Mensch einen wachsenden Einfluss auf die Lebensbedingungen und seine eigene Entwicklung hat;
Dass die biologische Vielfalt, die Entfaltung der Persönlichkeit und der Fortschritt der menschlichen Gesellschaften durch bestimmte Verbrauchs- und Produktionsweisen und durch die übermäßige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beeinträchtigt werden;
Dass die Erhaltung der Umwelt in gleicher Weise wie andere grundlegende Interessen der Nation angestrebt werden muss;
Dass im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung Entscheidungen, welche der Befriedigung der gegenwärtigen Bedürfnisse dienen, nicht die Fähigkeit künftiger Generationen und anderer Völker beeinträchtigen dürfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken;
– Verkündet:
Art. 1 Jeder Mensch hat das Recht, in einer ausgewogenen und gesundheitsverträglichen Umwelt zu leben.
Art. 2 Jeder Mensch hat die Pflicht, zur Erhaltung und Verbesserung der Umwelt beizutragen.
Art. 3 Jeder Mensch muss unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen den möglicherweise von ihm verursachten Umweltschäden vorbeugen oder zumindest deren Folgen begrenzen.
Art. 4 Jeder Mensch muss unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen zur Beseitigung der von ihm verursachten Umweltschäden beitragen.
Art. 5 Sofern ein Schaden, dessen Eintritt nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse ungewiss ist, auf schwere und irreversible Weise die Umwelt beeinträchtigen könnte, haben die Behörden in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen nach dem Vorsorgeprinzip dafür zu sorgen, dass Verfahren zur Risikobewertung zur Anwendung kommen und angemessene einstweilige Maßnahmen ergriffen werden, um den Eintritt des Schadens zu verhindern.
Art. 6 Die Politik der öffentlichen Hand muss eine nachhaltige Entwicklung fördern. Zu diesem Zweck hat sie Schutz und Erschließung der Umwelt, Wirtschaftsentwicklung und sozialen Fortschritt miteinander in Einklang zu bringen.
Art. 7 Jeder Mensch hat im Rahmen der gesetzlich festgelegten Bedingungen und Grenzen das Recht auf Zugang zu den Umweltinformationen der Behörden und auf Mitwirkung an der Ausarbeitung öffentlicher Entscheidungen, die einen Einfluss auf die Umwelt haben.
Art. 8 Bildung und Ausbildung im Umweltschutz müssen zur Wahrnehmung der in dieser Charta definierten Rechte und Pflichten beitragen.
Art. 9 Forschung und Innovation müssen einen Beitrag zur Erhaltung und Erschließung der Umwelt leisten.
Art. 10 Diese Charta dient Frankreich als Richtschnur für seine Aktionen auf europäischer und internationaler Ebene.
Artikel 3
Unter Artikel 34 der Verfassung wird folgender Absatz hinzugefügt:
„die Erhaltung der Umwelt;“.
Das vorliegende Gesetz ist als staatliches Gesetz durchzuführen.
Geschehen zu Paris am 1. März 2005
Jacques Chirac
Durch den französischen Staatspräsidenten:
Den Premierminister,
Jean-Pierre Raffarin
Den Justizminister,
Dominique Perben
Den Minister für Umwelt und nachhaltige Entwicklung,
Serge Lepeltier
Parlament:
Dekret des französischen Staatspräsidenten vom 18. Februar 2005 zur Unterbreitung von zwei Entwürfen zu Verfassungsgesetzen an das im Kongress versammelte Parlament, verabschiedet am 28. Februar 2005.
Stand: 15. Dezember 2022
Stand : 15 Dezember 2022