Teil des Themas : Fünf Jahre im Dienste Europas

Sieben Jahre nach der Sorbonne-Rede kam der Präsident der Französischen Republik am Donnerstag, den 25. April erneut in die französische Universität, um eine neue Rede über Europa zu halten.

Vor dem Hintergrund der derzeitigen Krisen forderte der französische Präsident eine souveränere, vereinte und demokratischere Europäische Union. 

Obwohl Europa seit 2017 stärker geworden ist, müssen die Bemühungen fortgesetzt werden. 

Zu einem Zeitpunkt, an dem die Zukunft Europas entschieden wird, legte Präsident Emmanuel Macron den Schwerpunkt auf drei Themen: 

  • ein geopolitischeres Europa;
  • ein wohlhabenderes Europa;
  • ein Europa, das sein kulturelles und intellektuelles Modell annimmt.

Sehen Sie sich die Rede an: 

25 April 2024 - Es gilt das gesprochene Wort

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Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron über Europa.

Sehr geehrter Herr Premierminister,
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Nationalversammlung,
Sehr geehrte Frauen und Herren Minister,
Sehr geehrte Frau Premierministerin,
Sehr geehrter Herr EU-Kommissar,
Sehr geehrte Abgeordnete,
Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments,
Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt,
Sehr geehrter Herr Generalstabschef der Streitkräfte,
Sehr geehrter Herr Präfekt der Region,
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
Sehr geehrter Herr Rektor,
Sehr geehrte Frauen und Herren Botschafter,
Sehr geehrte Damen und Herren.

Sieben Jahre nach meiner Sorbonne-Rede wollte ich an denselben Ort zurückkehren, um an unseren Errungenschaften anzuknüpfen und über unsere Zukunft zu sprechen. Unsere europäische Zukunft, aber per definitionem auch die Zukunft Frankreichs; denn sie beide sind untrennbar miteinander verbunden.

An diesem Ort sagte ich im September 2017, dass unser Europa allzu oft aus Überdruss oder Konformismus nicht mehr handeln wollte, nicht mehr vorschlug, zu handeln. Der europäische Geist war denjenigen ausgeliefert, die ihn angriffen.

Wir schlugen damals vor, ein geeinteres, souveräneres und demokratischeres Europa zu schaffen. Geeinter, um gegenüber den anderen Mächten und den Umschwüngen des Jahrhunderts Gewicht zu haben. Souveräner, um sich sein Schicksal, seine Werte und seine Lebensweise nicht von anderen aufzwingen zu lassen. Demokratischer, weil Europa der Ort ist, an dem die liberale Demokratie geboren wurde und wo die Völker für sich selbst entscheiden.

Ich hatte mir damals einen Zeitrahmen für eine Bestandsaufnahme gesetzt: sieben Jahre. Nun ist es heute und hier soweit. Wir müssen nüchtern betrachten, dass wir nicht alles erreicht haben, insbesondere im Hinblick auf das Schaffen eines demokratischeren Europas. Wir müssen uns eingestehen, dass die Fortschritte in dieser Hinsicht begrenzt waren – manchmal aus einer gewissen Zurückhaltung heraus, die Verträge, unsere Regeln und unsere kollektive Organisation zu ändern. Obwohl es einige Fortschritte in diesem Bereich gab, und obwohl eine wichtige Konferenz zur Zukunft Europas abgehalten und Überlegungen angestellt wurden, sind wir nicht weit genug gegangen.

Aber es gab auch Erfolge, vor allem in Bezug auf Einheit und Souveränität. Das war nicht selbstverständlich. In den letzten Jahren hat Europa noch nie vorher da gewesene Krisen durchgestanden. Beispielsweise der Brexit. Eine Implosion, deren schädliche Auswirkungen wir seither gesehen haben. Wie ich feststellen konnte, hat dies dazu geführt, dass sich heute niemand mehr so recht traut, einen Austritt aus der Europäischen Union oder der Eurozone vorzuschlagen. Die Corona-Pandemie, die plötzliche Rückkehr des Todes in unser aller Leben, der russische Krieg in der Ukraine, die Rückkehr der Tragik in den Alltag und ein existenzielles Risiko auf unserem Kontinent.

Aber trotzdem und vor einem in den letzten Jahren stets durch die Beschleunigung des ökologischen und technologischen Wandels geprägten Hintergrund, der die Karten unserer Lebens- und Produktionsweise grundlegend neu gemischt hat, war unser Europa entschlossen und ist vorangeschritten. Und das Konzept der Souveränität, das vor sieben Jahren noch sehr französisch geklungen haben mag, hat sich allmählich als europäisches Konzept durchgesetzt. Und trotz dieser beispiellosen Vielzahl an Krisen ist Europa selten so weit vorangekommen. Das ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit und einiger, meiner Meinung nach historischer Schritte, die wir in den letzten Jahren unternommen haben.

Erstens, die Entscheidung zur finanziellen Einheit, um die Pandemie zu bewältigen. Ich möchte an dieser Stelle dezidiert an dieses Thema erinnern, über das bis vor der Pandemie natürlich nicht diskutiert wurde. Aber als wir in Frankreich eine gemeinsame Verschuldungskapazität vorschlugen, hieß es, das sei eine schöne und großartige französische Idee, die aber nie Realität werden würde. Binnen weniger Wochen nach Ausbruch der Pandemie ist es uns gelungen, eine deutsch-französische Vereinbarung zu treffen. Dann haben wir als Europäer es geschafft, 800 Milliarden Euro aufzubringen. Dieser Schritt der gemeinsamen Verschuldung wurde von Finanzminister Scholz, der nun deutscher Bundeskanzler ist, damals zu Recht als ein Hamilton-Moment bezeichnet. Dabei handelte es sich jedoch um eine Entscheidung für ein geeintes Europa, deren direkte Folgen wir überall in unseren Regionen und Gemeinden erlebt haben. Dank dem, was wir als Europa getan haben, konnten wir Projekte zur Wiederbelebung und zur Unterstützung unserer Unternehmen durchführen. Und die KMU überall in unserem Land konnten die Früchte dieser Arbeit ernten.

Die zweite bedeutsame Entscheidung war jene zur strategischen Einheit in Bereichen, die bis dahin allein den nationalen Zuständigkeiten oblagen. Etwa im Bereich der Gesundheit. Der heute hier anwesende EU-Kommissar Breton wird sich daran erinnern, wie er zusammen mit der Kommissionspräsidentin und seiner für Gesundheit zuständigen Kollegin politische Maßnahmen ergriff, die es nicht gab und die in den Verträgen der EU nicht vorgesehen waren. Die Herstellung von Impfstoffen in Europa, die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und die Verteilung der Impfstoffe in ganz Europa – das haben wir geschafft. Frankreich konnte deshalb mit Anfang 2021 Impfungen durchführen, weil es diesen europäischen Reflex und diese Fähigkeit gab, politische Maßnahmen zu schaffen, die jedoch in den Verträgen nicht vorgesehen waren. Dabei sollten wir die Demut haben, zuzugeben, dass wir den Impfstoff nicht in Frankreich produziert haben. Nur durch Europa und unsere energischen Bemühungen haben wir es geschafft, voranzuschreiten. Ähnlich verhält es sich im Bereich der Energie: Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell von der Abhängigkeit von russischen Kohlenwasserstoffen befreien, unsere Beschaffung bündeln und unseren Strommarkt reformieren könnten? Und im Bereich der Verteidigung: Wer hätte vom ersten Tag der russischen Aggression gegen die Ukraine an auf die europäische Einheit und massive militärische Unterstützung durch die Europäische Union gewettet? Und doch haben wir es geschafft.

Der dritte entscheidende Schritt in den letzten Jahren war, dass wir begonnen haben, die Grundlagen für eine größere technologische und industrielle Souveränität zu schaffen. Keine andere Region der Welt als Europa hätte so einfach wie wir akzeptiert, bei lebenswichtigen Produkten und wesentlichen Komponenten von anderen abhängig zu sein. Ab 2018 haben wir mit Deutschland eine Initiative zur Unterstützung unserer Batteriebranche gestartet, die später auf Wasserstoff, Elektronik und das Gesundheitswesen ausgeweitet wurde. Wir haben mit Deutschland Großprojekte gestartet, wie etwa den Kampfpanzer der Zukunft und das Luftkampfsystem der Zukunft. Und mit unseren niederländischen Freunden haben wir beispielsweise bei U-Booten strukturierende Initiativen gestartet. Aber seit der Pandemie und insbesondere seit den ersten Wochen der russischen Aggression gegen die Ukraine haben wir auf dem Gipfel von Versailles eine echte Strategie der Autonomie aufgebaut. Diese strategische Autonomie, von der wir an jenem Zeitpunkt sprachen und die wir als europäisches Konzept annahmen, war die Entscheidung dazu, unsere strategische Abhängigkeit in Schlüsselbereichen, von Halbleitern bis hin zu kritischen Rohstoffen, zu beenden. Es wurden europäische Texte verabschiedet, und eine Politik der Investitionen, der Sicherung und der Verlagerung von Standorten wurde angenommen. Dies war ein Novum unserer Geschichte. Vor sieben Jahren hat Europa damit begonnen, aus dieser, wenn ich es so sagen darf, technologischen und industriellen Naivität herauszukommen. Europa hat zudem ebenso damit begonnen, den Kurs seiner Handelspolitik zu korrigieren; auch wenn wir bei diesem Thema, auf das ich noch zurückkommen werde, meiner Meinung nach erst auf halbem Wege sind.

Der vierte entscheidende Schritt der letzten Jahre war, dass wir die grundlegende und, wie ich glaube, einzigartige Entscheidung getroffen haben, die großen Herausforderungen Europas zu durchdenken, vorzubereiten und zu planen. Dabei wurde viel Kritik geäußert, insbesondere am sogenannten Green Deal. Entschuldigen Sie den Anglizismus an dieser Stelle. Aber Europa ist der einzige politische Raum der Welt, der die für ihn anstehenden Wandel geplant hat. Wir haben eine Entscheidung zur Transparenz getroffen. Und zwar indem wir Richtlinien zur Digitalisierung erlassen haben, die es ermöglichen, sowohl die Inhalte als auch den Markt zu regulieren, und indem wir einen Text erlassen haben, der das Weichenstellen für unsere Energiewende möglich macht. Und indem wir die Kohärenz unserer Politik in Europa gewissermaßen im Hinblick auf unsere internationalen Verpflichtungen aufgebaut haben.

Nun müssen wir nur noch die mit der Anwendung in jedem Mitgliedstaat einhergehende Flexibilität und vor allem die damit verbundene Investitionspolitik einplanen. Wir haben jedoch auf europäischer Ebene einen Plan für den bevorstehenden Wandel aufgestellt, wo überall sonst in der Welt Großmächte Verpflichtungen eingegangen sind, ohne überhaupt damit begonnen zu haben, deren Einhaltung zu erklären. Dies sind Sockel, die nunmehr als Meilensteine zu betrachten sind. Und ich werde später noch darauf zurückkommen, wie sie so miteinander verknüpft werden können, dass sie mit einer Politik des Wachstums, der Vollbeschäftigung und der industriellen Entwicklung vereinbar sind.

Der fünfte entscheidende Schritt des letzten Jahres war, dass Europa begonnen hat, die Existenz seiner Grenzen klar zu bekräftigen. Europa ist eine großzügige Idee, die auf dem freien Personen- und Warenverkehr beruht. Manchmal hat es dabei vergessen, die Verantwortung für seine Außengrenzen zu übernehmen und sie zu schützen. Dabei meine ich nicht Grenzen im Sinne von Festungen, sondern Grenzen zwischen einem Innen und einem Außen. Es gibt keine Souveränität, wenn es keine Grenzen gibt. Und so haben wir trotz der Spaltungen, die unsere Fortschritte in diesem Bereich fast zehn Jahre lang behindert hatten, insbesondere während der französischen EU-Ratspräsidentschaft einen ersten Pakt zu Einwanderung und Asyl ausgearbeitet, das nun verabschiedet wurde. Ich danke allen, die dies ermöglicht haben. Dieser Pakt ermöglicht erstmals eine bessere Kontrolle unserer Grenzen, indem es verpflichtende systematische Registrierungs- und Auswahlverfahren an unseren Außengrenzen einführt, um festzustellen, wer für internationalen Schutz in Frage kommt und wer in sein Herkunftsland zurückkehren muss. Und es ermöglicht die Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb unseres Europas. Dies ist eine wesentliche Errungenschaft der letzten Jahre.

Der sechste Fortschritt besteht darin, dass wir begonnen haben, unsere Geografie im Hinblick auf die Grenzen unserer Nachbarschaft neu zu denken. Europa denkt sich nach der russischen Aggression nun als zusammenhängendes Ganzes, indem es bekräftigt, dass die Ukraine und Moldau Teil unserer europäischen Familie sind und zu gegebener Zeit der Union beitreten sollen, ebenso wie die westlichen Balkanstaaten. Wie ich letztes Jahr in Pressburg sagte, ist es unsere Aufgabe, ihre europäische Verankerung zu gewährleisten, jetzt die zur Vorbereitung für diesen Weg notwendigen Reformen zu unterstützen, der auf der Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands beruht, und parallel dazu unsere Union zu reformieren, die nur dann erweitert werden kann, wenn sie sich tiefgreifend verändert und vereinfacht.

Wir haben zudem zum ersten Mal auf der Ebene des europäischen Kontinents unsere Verbindungen zu allen angedacht, und zwar mit der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Diese Initiative, die wir im Mai 2022 vorgeschlagen haben, ermöglicht es uns, über den Rahmen der 27 EU-Mitgliedstaaten hinauszugehen und unser Europa – von unseren britischen Freunden über Norwegen bis hin zum Westbalkan – auf kontinentaler Ebene als ein geografisch bedeutsames Netzwerk zu begreifen und konkrete Kooperationen aufzubauen.

Seit 2017 war all dies dank des Engagements und der Arbeit vieler möglich, die heute in diesem Saal versammelt sind. Ich möchte die Arbeit der aufeinanderfolgenden Ministerinnen und Minister, der Behörden sowie aller Teams würdigen, die insbesondere den Erfolg der französischen EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr von 2022 ermöglicht haben, und auch allen europäischen Kolleginnen und Kollegen danken, die dieses ehrgeizige Ziel vorangetragen haben. Ich danke auch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die dafür gestimmt haben, und der engagierten Arbeit der Kommission in den letzten Jahren. Diese gemeinsame Arbeit, die ich an dieser Stelle lediglich überblicksartig skizziert habe, hat dazu geführt, dass sich das zunächst seltsam anmutende Konzept der Souveränität allmählich durchgesetzt hat und dass sich Europa in den letzten sieben Jahren seinen Herausforderungen gestellt hat. Wir haben dies wohlbemerkt mit einer sicherlich neuen Methode erwirkt, nicht mit der „Brüsseler Methode“, wenn ich mir diese Formulierung erlauben darf.

Ich wollte während meiner ersten Amtszeit alle europäischen Hauptstädte besuchen, wirklich jede einzelne. Wir haben besondere Beziehungen aufgebaut und sie auch gestärkt, etwa zu Deutschland durch den Vertrag von Aachen, zu Italien durch den Quirinal-Vertrag, zu Spanien durch den Vertrag von Barcelona und morgen zu Polen, auch hier durch einen neuen Vertrag. Wir haben eine Politik unter Gleichen entfaltet, uns unseren mittel- und osteuropäischen Partnern zugewandt, einen neuen Dialog und den Austausch von den Weimarer Formaten bis hin zur EuroMed 9 ermöglicht, und versucht, unsere vielfältige Geografie zu verkörpern, indem wir Sympathien und insbesondere stärkere Beziehungen innerhalb dieses Europas geschaffen und so Stück für Stück Fortschritte erzielt haben.

Ja, wir haben in den letzten Jahren viel getan. Ohne diese Maßnahmen, ohne diese Fortschritte der europäischen Souveränität und Einheit wären wir zweifellos von der Geschichte überholt worden. Und im Übrigen wäre die Situation kritisch, wenn wir so reagiert hätten, wie damals zum Zeitpunkt der Finanzkrise. Angesichts der Finanzkrise agierten wir gespalten und mit wenig Souveränität. Deshalb dauerte es bei uns, so wage ich zu behaupten, vier bis fünf Jahre, um sie zu bewältigen, während sie in den USA, wo sie ihren Ursprung hatte, in weniger als einem Jahr gelöst wurde. Auf die Krisen, die wir nun erlebt haben, haben wir schnell und geschlossen reagiert. Das ermöglicht uns heute, zusammenzustehen und hier zu sein.

Aber reicht das? Kann ich mit einer selbstzufriedenen Rede vor Sie treten und sagen: "So, wir haben alles richtig gemacht. Großartig, Europa ist stark. Lasst uns so weitermachen"? Die Klarheit und Ehrlichkeit gebieten es, zuzugeben, dass der Kampf noch lange nicht gewonnen ist und dass im nächsten Jahrzehnt das Risiko immens ist, geschwächt oder sogar auf der Strecke gelassen zu werden. Denn wir befinden uns an einem noch nie zuvor da gewesenen Zeitpunkt der globalen Umwälzungen und der immer schneller werdenden, maßgeblichen Veränderungen.

Meine Botschaft heute ist einfach. Paul Valery sagte nach dem Ersten Weltkrieg, dass wir nunmehr wüssten, dass unsere Zivilisationen sterblich seien. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser heutiges Europa sterblich ist. Europa kann sterben. Es kann sterben, und das hängt einzig und allein von unseren Entscheidungen ab. Aber diese Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden.

Denn die Frage von Krieg und Frieden auf unserem Kontinent und ob wir in der Lage dazu sind, unsere Sicherheit zu gewährleisten oder nicht, entscheidet sich jetzt. Die großen Umwälzungen, nämlich die des digitalen Wandels, der künstlichen Intelligenz wie auch die des Umweltschutzes und der Dekarbonisierung sowie die Neuverteilung der Produktionsfaktoren entscheiden sich jetzt. Und auch die Frage, ob Europa eine Macht der Innovation, der Forschung und der Produktion sein wird, entscheidet sich jetzt. Denn der Angriff auf die liberale Demokratie, auf unsere Werte und auf das, was die Quintessenz der europäischen Zivilisation ist, nämlich eine gewisse Beziehung zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Wissen – wie ich an diesem Ort des Wissens sage –, findet ebenso jetzt statt.

Ja, wir befinden uns an einem Wendepunkt, und unser Europa ist sterblich. Einfach gesagt hängt es von uns ab, was passieren wird, wie einige sehr simple Fakten und Beobachtungen zeigen, welche die Ernsthaftigkeit meiner Worte verdeutlichen.

Erstens sind wir dem uns bevorstehenden Risiko nicht gewappnet. Trotz alledem, was wir getan haben und ich soeben genannt habe, stehen wir vor einer entscheidenden Herausforderung was Rhythmus und Ansatz anbelangt. Wir haben einen Weckruf vernommen. Frankreich selbst hat seinen Verteidigungshaushalt verdoppelt. Wir sind gerade dabei, dies mit dem zweiten Gesetz zur Militärprogrammierung zu bewerkstelligen. Aber auf europäischer Ebene ist das Erwachen noch zu langsam, zu schwach angesichts der allgemeinen und immer schnellen voranschreitenden Aufrüstung in der Welt. Die chinesisch-amerikanischen Spannungen haben zu einem Anstieg der Rüstungsausgaben, der technologischen Innovation und der Erhöhung der militärischen Kapazitäten geführt. Wir sehen uns nunmehr mit regional enthemmten Mächten konfrontiert, die im Begriff sind, ihre Fähigkeiten zu zeigen. Russland und der Iran sind lediglich zwei Beispiele hierfür. Europa ist umzingelt und wird von vielen dieser Mächte an seinen Grenzen und manchmal auch in seinem Inneren vorangetrieben. Ja, wir sind heute noch zu langsam und nicht ehrgeizig genug angesichts der Realität dieser Umwälzungen und angesichts eines neben dem Alltagsgeschäft zu bedenken Kontexts.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben zwei Prioritäten: erstens, die Vereinigten Staaten von Amerika, was legitim ist, und zweitens die chinesische Frage. Die europäische Frage ist in den kommenden Jahren und Jahrzehnten keine geopolitische Priorität, unabhängig von der Stärke unseres Bündnisses und dem Glück, dass die aktuelle amerikanische Regierung sich im russischen Krieg in der Ukraine stark macht. Und daher: Ja, die Ära, in der Europa seine Energie und Düngemittel von Russland bezog, in China produzieren ließ und seine Sicherheit an die Vereinigten Staaten von Amerika delegierte, ist vorbei.

Tiefgreifende Veränderungen haben ihren Ausgang genommen. Aber wir werden den Anforderungen nicht gerecht, weil sich die Spielregeln geändert haben. Und weil allein die Tatsache, dass wieder Krieg auf europäischem Boden stattfindet und von einer Atommacht geführt wird, alles verändert. Weil allein die Tatsache, dass Iran an der Schwelle zum Erwerb von Atomwaffen steht, alles verändert. Das ist die erste Änderung der Spielregeln.

Die zweite Änderung der Spielregeln ist, dass unser Wirtschaftsmodell, so wie es heute konzipiert ist, nicht mehr haltbar ist. Wir wollen legitimerweise alles haben, aber das funktioniert nicht mehr. Wir wollen natürlich ein soziales Modell, und wir haben tatsächlich auch das großzügigste Sozial- und Solidaritätsmodell der Welt. Das ist eine Stärke. Wir wollen den Klimaschutz, und damit wie bereits erwähnt kohlenstofffreie Energie, aber wir sind der einzige geografische Raum, der die dafür nötigen Regeln aufgestellt hat. Die anderen halten nicht Schritt.

Wir wollen einen für uns profitablen Handel, jedoch mit mehreren anderen, die ihre Spielregeln allmählich ändern und die übermäßig subventionieren – von China bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir können auf Dauer nicht die höchsten Umwelt- und Sozialstandards haben, weniger investieren als unsere Konkurrenten, eine naivere Handelspolitik betreiben als sie und glauben, dass wir weiterhin Arbeitsplätze schaffen werden. Das ist nicht mehr haltbar.

Es besteht also die Gefahr, dass Europa den Anschluss verliert. Dies beginnt sich trotz all unserer Bemühungen bereits abzuzeichnen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in den USA zwischen 1993 und 2022 um fast 60 % gestiegen. Das BIP in Europa ist um weniger als 30 % gestiegen. Und das sogar noch bevor die USA den Inflation Reduction Act beschlossen, also eine massive Politik zur Anziehung unserer Wirtschaftszweige und zur Subventionierung aller grünen Branchen und Technologien eingeführt, haben. Wir stehen also heute vor der Herausforderung, viel schneller voranzuschreiten und unser Wachstumsmodell zu überarbeiten. Denn auch hier haben sich die Spielregeln geändert, und zwar auf einfache Art und Weise: Die beiden größten internationalen Mächte haben beschlossen, sich nicht mehr an die Regeln des Handels zu halten. Ich drücke das in sehr einfachen Worten aus, aber das ist die Realität seit dem Inflation Reduction Act. In den letzten zwanzig Jahren haben wir alle gemeinsam gesagt: Wir nehmen China in die WTO auf, und unser Ziel ist es, dass die zweitgrößte Handels- und Wirtschaftsmacht unsere Regeln befolgt. Und dann war es, als hätte die größte Volkswirtschaft der Welt plötzlich beschlossen, dass sie sich wie die zweitgrößte verhalten würde. Das ist genau das, was passiert ist. Und so können wir unsere Ziele nicht mehr einhalten. Das Risiko besteht natürlich in unserer Verarmung. Verarmung ist ein kritischer Faktor für einen Kontinent wie den unseren, der zudem das anspruchsvollste Sozialmodell hat und am meisten von dem Reichtum abzweigt, den er produziert.

Die dritte Beobachtung, welche die Bedeutung des jetzigen Zeitpunktes unterstreicht, ist der Kulturkampf, jener Kampf um Weltbilder, Narrative und Werte, der zunehmend heikler wird. Für lange Zeit haben wir gedacht, dass unser Modell unwiderstehlich sei – die sich ausbreitende Demokratie, die fortschreitenden Menschenrechte, die triumphierende europäische Soft Power. Demokratie ist für viele Menschen in der Welt nach wie vor attraktiv. Aber betrachten wir die Dinge nüchtern: Unsere liberale Demokratie wird zunehmend mit falschen Argumenten und einer Form der Werteumkehrung kritisiert, und zwar weil wir es zulassen, weil wir verwundbar sind. Überall in unserem Europa sind unsere Werte und Kultur durch die Infragestellung ihrer Grundlagen und den Glauben bedroht, autoritäre Ansätze wären irgendwie effizienter oder attraktiver. Die Bedrohung besteht auch darin, dass unsere Träume und Geschichten immer weniger europäisch sind. Als Folge der Digitalisierung, die unser aller Leben einnimmt, sind die Inhalte, mit denen unsere Kinder und Jugendlichen in Berührung kommen, zunehmend amerikanisch oder asiatisch. Auf die Digitalisierung komme ich später noch zu sprechen.

Ja, unser Europa wird vermehrt mit – in meinen Augen – zahlreichen schlechten Gründen und falschen Argumenten in seiner Kapazität angefochten, ein attraktives politisches Model zu bieten. Vor allem aber ist Europa zunehmend weniger imstande, große Narrative zu kreieren. Es gibt große Narrative, die den Planeten zum Träumen bringen, und Europa konsumiert immer mehr Narrative, die von anderswoher stammen. So ist es uns nicht möglich, die Zukunft zu gestalten. Und es sind diese drei Beobachtungen und Faktoren – Geo- und Sicherheitspolitik, Wirtschaft, Kultur und Intellektuelles –, die uns heute zu der Aussage verleiten, dass die Frage nach unserer Souveränität im Grunde genommen in ihrem eigentlichen Inhalt heute noch wichtiger ist als gestern.

Aber was genau bedeutet es, inmitten dieser globalen Umwälzungen souverän zu sein? Ist es ein Ausdruck der Souveränität, wenn ich zu Ihnen sage: Europa kann sterben? Es bedeutet, dass wir uns den drei Herausforderungen unserer Zeit stellen müssen, dieser Beschleunigung der Geschichte und ihrer Dramatisierung.

Die Lösung liegt also in unserer Fähigkeit, maßgebliche strategische Entscheidungen zu treffen, Paradigmenwechsel durchzuführen und im Grunde genommen mit Stärke, Wohlstand und Humanismus zu reagieren – denn die Spielregeln haben sich in allen der drei Punkte geändert. Und auf diese drei Punkte möchte ich heute eingehen. Ich glaube, dass wir durch Stärke, Wohlstand und Humanismus dieser europäischen Souveränität gewissermaßen einen Inhalt verleihen und es Europa ermöglichen werden, ein Kontinent zu sein, der nicht verschwindet, ein politisches Projekt, das in dieser Welt und in dieser Zeit, in der es mehr denn je bedroht ist, Bestand hat.

*

Ein starkes Europa ist einfach definierbar: Es ist ein Europa, das sich Respekt verschafft und seine Sicherheit gewährleistet. Es ist ein Europa, das dazu steht, Grenzen zu haben und diese zu schützen. Es ist ein Europa, das die Risiken sieht, denen es ausgesetzt ist, und sich darauf vorbereitet. Um dies zu erreichen, müssen wir aus einer Art strategischer Vormundschaft ausbrechen. Warum? Weil wir indirekt so konzipiert wurden. Viele europäische Länder hatten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs akzeptiert – oft wurde es ihnen aufgezwungen –, ihre Sicherheit an andere zu delegieren, weil nicht gewollt war, dass sie zu schnell wieder aufrüsten. Und wie ich bereits erwähnt habe, haben wir alles, was in unserer Welt strategisch wichtig ist, ein wenig delegiert: unsere Energie an Russland, unsere Sicherheit – nicht die Frankreichs, doch die mehrerer unserer Partner – an die Vereinigten Staaten und ebenso kritische Perspektiven an China. Wir müssen sie uns zurückholen. Das ist strategische Autonomie.

Zunächst müssen wir bei der Verteidigung einen anderen Maßstab anlegen. Die aktuell größte Gefahr für die europäische Sicherheit ist der russische Krieg in der Ukraine. Die unabdingbare Voraussetzung für unsere Sicherheit ist, dass Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnt. Das ist unerlässlich. Deshalb war es von Anfang an richtig, Russland zu sanktionieren sowie die Ukraine zu unterstützen und dies auch weiterhin zu tun, und wir haben das Glück, die Amerikaner dabei an unserer Seite zu haben, während wir stets unsere Hilfen und Unterstützung steigern.

Ich übernehme lediglich die volle Verantwortung für die Entscheidung, strategische Ambiguität wieder einzuführen, die ich am 26. Februar in Paris getroffen habe. Warum? Wir haben es mit einer Macht zu tun, die enthemmt ist, die ein Land in Europa angegriffen hat, die jedoch keine sogenannte „Spezialoperation“ mehr durchführt und die uns nicht mehr sagen will, wo ihre Grenzen liegen. Warum hingegen sollten wir jeden Tag teilen, wo unsere strategischen Grenzen liegen? Wenn wir sagen, dass die Ukraine die Voraussetzung für unsere Sicherheit ist und dass es in der Ukraine nicht nur um die Souveränität und territoriale Integrität dieses ohnehin schon wichtigen Landes geht, sondern um die Sicherheit Europas – haben wir dann irgendwelche Grenzen? Nein. Und deshalb müssen wir glaubwürdig sein, abschrecken, präsent sein und unsere Anstrengungen fortsetzen. Dieser Krieg, in den eine Atommacht verwickelt ist, die ihre Nuklearwaffen in ihrer Rhetorik einsetzt, ist jedoch zweifellos lediglich der erste Ausdruck der geopolitischen Spannungen, mit denen Europa lernen muss zu leben. Deshalb erleben wir derzeit einen Paradigmenwechsel im Bereich der Sicherheit. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, wie wichtig Raketenabwehr und Kapazitäten zu tiefen Militäroperationen sind, die für die strategische Signalgebung und das Eskalationsmanagement gegenüber enthemmten Gegnern unabdingbar sind.

Deshalb müssen wir – und das ist das neue Paradigma im Bereich der Verteidigung – eine glaubwürdige Verteidigung des europäischen Kontinents entwickeln. Natürlich ist der europäische Pfeiler innerhalb der NATO, den wir derzeit aufbauen und von dessen Sinnhaftigkeit wir in den letzten Jahren alle unsere Partner überzeugt haben, von wesentlicher Bedeutung. Aber wir müssen einen Inhalt für diese glaubwürdige Verteidigung Europas, welche die Voraussetzung für den Wiederaufbau eines gemeinsamen Sicherheitsrahmens darstellt, definieren. Europa muss wissen, wie es das, was ihm wichtig ist, verteidigen kann, und zwar gemeinsam mit seinen Verbündeten, wann immer sie bereit sind, dies an unserer Seite zu tun, und allein, wenn es notwendig ist. Brauchen wir dafür einen Raketenabwehrschild? Vielleicht. Ist das durch die Erhöhung unserer Verteidigungskapazitäten möglich, und wenn ja, anhand welcher? Zweifellos. Reicht das angesichts der russischen Raketen aus? Daran müssen wir arbeiten. Aber wenn wir einen aggressiv gewordenen Nachbarn haben, der seine Grenzen nicht mehr erklärt, der jedoch über ballistische Kapazitäten verfügt, die er in den letzten Jahren stark erneuert hat und deren Reichweite und Technologie sich verändert haben, und der zudem über Atomwaffen verfügt und seine Kapazitäten erhöht hat, dann wird klar, dass wir dieses strategische Konzept einer glaubwürdigen europäischen Verteidigung für uns selbst aufbauen müssen.

Deshalb werde ich in den kommenden Monaten alle meine Partner einladen, diese europäische Verteidigungsinitiative aufzubauen, die zunächst ein strategisches Konzept sein muss, aus dem wir dann die relevanten Kapazitäten ableiten: Raketenabwehr, Tiefenfeuer und alle weiteren nützlichen Kapazitäten. Frankreich wird dabei seinen Beitrag leisten. Wir verfügen über ein umfassendes Modell der Streitkräfte, mit dem Ziel, die effizienteste Armee des Kontinents zu haben, und wir verfügen zudem über Atomwaffen und damit über die dazugehörige Abschreckungsfähigkeit. Die nukleare Abschreckung ist das Herzstück der französischen Verteidigungsstrategie. Sie ist daher naturgemäß ein unumgängliches Element der Verteidigung des europäischen Kontinents. Dank dieser glaubwürdigen Verteidigung können wir die Sicherheitsgarantien aufbauen, die all unsere Partner überall in Europa erwarten, und die auch dazu berufen ist, den gemeinsamen Sicherheitsrahmen aufzubauen, der die Sicherheit für alle garantiert. Und es ist dieser Sicherheitsrahmen, der es uns auch nach dem Krieg ermöglichen wird, die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Russland aufzubauen.

Darüber und über diesen tiefgreifenden Paradigmenwechsel für unser Europa hinaus geht es darum, zwischen den europäischen Armeen einen echten strategischen Zusammenhalt zu schaffen. Dies geschieht durch die Einleitung einer zweiten Phase der Europäischen Interventionsinitiative. Diese hatte ich 2017 vorgeschlagen. Sie war ein voller Erfolg. 13 EU-Mitgliedstaaten haben sich ihr angeschlossen. Wir konnten pragmatische, operative Kooperationen aufbauen. Das haben wir in der Sahelzone mit der Task Force Takuba getan. Diese Gesinnung war es auch, die es uns ermöglicht hat, eine einzigartige europäische Operation, Aspides, im Roten Meer aufzubauen. Die Fähigkeit, Koalitionen gemeinsam zu führen, erfordert in der Tat eine gemeinsame Kultur. Diese entsteht durch die regionale Ausarbeitung europäischer Sicherheits- und Verteidigungsstrategien im Mittelmeerraum, in Afrika, im Indopazifik und in der Arktis, um unsere Visionen zu vereinheitlichen und unsere Kräfte besser über Europa zu verteilen, aber auch durch die Schaffung einer Europäischen Militärakademie, um die künftigen militärischen und zivilen Führungskräfte Europas für die sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen auszubilden.

Wir müssen auch bei der Umsetzung des Strategischen Kompasses, den wir unter der französischen EU-Ratspräsidentschaft abgeschlossen haben, schneller voranschreiten und insbesondere eine schnelle Eingreiftruppe aufstellen, um bis 2025 schnell bis zu 5.000 Soldaten in feindlichen Umgebungen einsetzen zu können, insbesondere zur Hilfeleistung für unsere Staatsangehörigen. Um unsere Ziele zu erreichen, müssen wir uns zudem in neuen Räumen der Konfliktaustragung behaupten, in denen, wie wir in dem von Russland geführten hybriden Krieg sehen, ein Teil des Krieges bereits heute ausgetragen wird, und in denen unsere Infrastrukturen geschützt werden müssen, sei es im Verkehrswesen, in Krankenhäusern, Stromnetzen oder in der Telekommunikation. Daher möchte ich, dass wir europäische Kapazitäten für Cybersicherheit und -verteidigung aufbauen. Während wir alle gerade dabei sind, diese Kapazitäten für unsere nationalen Streitkräfte aufzubauen, stellt dies eine einmalige Gelegenheit dar, umgehend eine europäische Zusammenarbeit aufzubauen und angesichts dieser Risiken als wahrhafte Europäer zu handeln.

Sie sehen also: Verantwortung übernehmen heißt, für uns selbst zu entscheiden und unsere europäischen Verteidigungsmaßnahmen in die Hand zu nehmen. Die Gestaltung eines neuen Paradigmas. Mehr Zusammenhalt und konkrete gemeinsame Initiativen.

Dafür haben wir bereits Rahmen, neuartige Partnerschaften. Die Briten sind enge unerschütterliche Verbündete und die Verträge, die uns verbinden, darunter der Vertrag von Lancaster House, bilden ein solides Fundament. Auf diesem muss aufgebaut werden. Es muss gestärkt werden. Denn der Brexit hat unsere Beziehung nicht beeinträchtigt. Vielleicht muss dieses Fundament sogar anderen Partnern zugänglich gemacht werden? Die Europäische Politische Gemeinschaft ist zweifellos der richtige Ort, um dieses neue Sicherheitsparadigma, diesen zusätzlichen Zusammenhalt, aufzubauen und diesen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsrahmen zu setzen.

Letzten Endes gibt es keine Verteidigung ohne Rüstungsindustrie. In dieser Hinsicht muss die Unterstützung für die Ukraine dringend in langfristige Bemühungen umgewandelt werden. Das ist die sogenannte Kriegswirtschaft, die wir zusammen mit dem Minister so stark vorantreiben. Der Weg dorthin ist lang, denn wir haben jahrzehntelang zu wenig in unsere eigene Produktion investiert, wie wir uns eingestehen müssen. Im Grunde hat die Friedensdividende dazu geführt, dass die Europäer zu wenig produziert und investiert haben, was auch eine sehr starke Abhängigkeit von außereuropäischen Herstellern geschaffen hat. Angesichts dessen müssen wir also schneller, mehr und in Europa produzieren – das ist von grundlegender Bedeutung. Deshalb setze ich mich für eine europäische Bevorzugung bei der Beschaffung von Rüstungsgütern.

Schauen Sie sich die Europäische Friedensfazilität an, die wir für die Anfänge des Krieges aufgebaut haben: Drei Viertel davon wurden für den Kauf von nicht-europäischem Material verwendet. Es bestand zu dieser Zeit das Kriterium der Dringlichkeit. Es war nicht möglich, alles in Europa produzieren. Es gab aber auch festgefahrene Automatismen. Es ist immer besser zu kaufen – oft von den USA oder Korea –, aber wie wollen wir unsere Souveränität und unsere Autonomie auf Dauer aufbauen, wenn wir nicht auch die Verantwortung für die Entwicklung einer europäischen Rüstungsindustrie übernehmen?

Ja, wir müssen es schaffen, eine europäische Bevorzugung zu schaffen, europäische Industrieprogramme aufzubauen, eine stärkere Unterstützung durch die Europäische Investitionsbank anzunehmen und zusätzliche Finanzierungen zu übernehmen, einschließlich der innovativsten, wie etwa die Idee einer europäischen Anleihe, die von der Premierministerin Kaja Kallas vorgeschlagen wurde.

Das Ziel einer europäischen Strategie der Rüstungsindustrie ist es, schneller, mehr und in Europa zu produzieren. Für uns, die wir eine starke Rüstungsindustrie haben, ist dies eine außergewöhnliche Gelegenheit, denn wenn wir uns zu organisieren wissen, können wir auch unsere Standards vorantreiben. Das haben wir übrigens in den letzten Jahren mit dem Rafale-Kampfflugzeug getan. Von Kroatien bis Griechenland – wer hätte vor sieben Jahren gedacht, dass die Rafale zu einer der Lösungen für die europäische Luftverteidigung werden würde? Sie ist nämlich dabei, genau das zu werden. Aber das wird uns auch dazu bringen, auf europäischer Ebene gemeinsame Standards zu entwickeln. Denn eines der Probleme, das wir Europäer haben, ist, dass wir im Bereich der Rüstungsindustrie nach wie vor zu stark gespalten sind. Unsere Spaltungen sind eine Schwäche. Das haben wir auf grausame und konkrete Weise während dieses Krieges erlebt, in dem wir Europäer selbst entdeckten, dass unsere Kanonen nicht das gleiche Kaliber hatten, dass unsere Raketen nicht aufeinander abgestimmt waren und dass dies unsere Fähigkeit, gemeinsam auf demselben Operationsgebiet zu agieren, de facto verringerte. Ja, die Anstrengungen in dieser Hinsicht werden auch über die Standardisierung, den Aufbau großer Vorreiter und damit über die europäische Konsolidierung und die Organisation einer echten Rüstungspolitik erfolgen. Das ist eine Notwendigkeit, die wir anerkennen müssen.

Wie Sie verstanden haben, müssen wir nicht einfach eine neue Etappe durchlaufen, sondern wirklich ein neues Paradigma im Bereich der Verteidigung aufbauen – vom strategischen Konzept bis hin zum größten Zusammenhalt, dem neuen gemeinsamen Rahmen und den neuen Kapazitäten. Aber dieses starke Europa stützt sich natürlich auf eine entsprechende Diplomatie.

Die Diplomatie wird von jedem Mitgliedstaat getragen, sie liegt in unserer Hand. Aber wir können sie vervielfachen und auf eine größere europäische Kohärenz stützen. Deshalb glaube ich, dass wir in den kommenden Jahren ergänzend zu diesem Ansatz und diesem Aufbruch in Sachen Sicherheit und Verteidigung weitermachen müssen. Wir müssen weiterhin Partnerschaften mit Drittländern eingehen, d. h. ein Europa aufbauen, das zu zeigen vermag, dass es niemals der Vasall der Vereinigten Staaten von Amerika ist und dass es auch mit allen Regionen der Welt, den Schwellenländern, Afrika sowie Lateinamerika zu sprechen weiß. Nicht einfach durch Handelsabkommen, sondern mit echten Strategien für ausgewogene und gegenseitige Partnerschaften.

Das wollten wir auf dem EU-Afrika-Gipfel im ersten Halbjahr von 2022 bis hin zur europäischen Indopazifik-Strategie aufbauen. Um zu zeigen, dass wir eine auf Ausgewogenheit bedachte Macht sind, die mit dem Rest der Welt spricht und die in gewisser Weise die bipolare Konfrontation ablehnt, der sich aktuell zu viele Kontinente zuwenden. Eine arktische, indopazifische, lateinamerikanische und afrikanische Strategie zu haben, bedeutet zu zeigen, dass Europa nicht einfach nur ein Teil des Westens ist, sondern ein globaler Kontinent, der über seine Universalität und die maßgeblichen Gleichgewichte auf dem Planeten nachdenkt, der die Konfrontation zwischen den Erdteilen ablehnt und ausgewogene Partnerschaften aufbauen will.

Das ist absolut entscheidend. Wir müssen diesen Weg weitergehen, der es uns ermöglicht, bei Themen wie Bildung, Gesundheit, Klima und Armutsbekämpfung eine einzigartige Stimme zu haben, wie wir es bereits mit dem Pakt für die Menschen und den Planeten getan haben. Und wir müssen zeigen, dass es bei uns keine Doppelmoral gibt und wir auch hier sehr wohl unsere Autonomie haben.

Ein starkes Europa ist auch ein Europa, das seine Grenzen unter Kontrolle hat. Ich erwähnte dies bereits, als ich von der Verabschiedung des Asyl- und Migrationspakts sprach, der einen großen Fortschritt darstellte. Aber ich sage es erneut in einem Moment, in dem die Frage der Grenzen und der Einwanderung unsere Gesellschaften und Länder legitimerweise in ihren Grundfesten erschüttert, wie wir alle wissen. Für Frankreich ist sie sogar noch wichtiger, denn Frankreich ist ein Land mit sogenannter Sekundärmigration; verzeihen Sie die Verwendung dieses Fachterminus. Das bedeutet, dass die Einwanderer nicht direkt nach Frankreich kommen, sondern dass sie über andere Grenzen auf den europäischen Kontinent und insbesondere in den Schengenraum gelangen.

Und so braucht Frankreich, manchmal mehr als andere, eine wirksame europäische Politik und eine gute Zusammenarbeit, denn die Einwanderung beginnt an den europäischen Grenzen und nicht nur an den französischen. Wir sind ein Land, in dem Frauen und Männer ankommen, die vor dem Elend fliehen, die manchmal auch Opfer von Menschenhändlerringen sind, die manchmal nach ihrem Einsatz für Freiheit legitimes Asyl suchen, die jedoch immer über Spanien, Italien, den Balkan oder Griechenland auf europäischen Boden gelangen und dann den Weg in unser Land finden. Und so brauchen wir bei uns, zweifellos mehr als anderswo, eine stärkere europäische Zusammenarbeit. Aus diesem Grund müssen wir den Asyl- und Migrationspakt nun auch umsetzen, denn er bietet uns neue Instrumente, die wir bisher nicht hatten: verbesserte Registrierung, Nachverfolgung und Bedingungen für die Rückkehr in das Land der Ersteinreise. Dies ist bereits ein beispielloser Fortschritt. Aber wir müssen bei der Rückführung und Rückübernahme all der Frauen und Männer, die auf unseren Boden kommen und die nicht aufenthalts- oder asylberechtigt sind, entschlossener vorgehen. Dies erfordert eine echte europäische Politik und eine echte Koordinierung. Dies wird durch mehr Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern, klareren Bedingungen und den unermüdlichen Kampf gegen das Geschäftsmodell von Schleusern und Menschenhändlern geschehen.

Wir, die 27 EU-Mitgliedstaaten, müssen diese Kooperationen und diese politischen Maßnahmen insbesondere im Schengenraum aufbauen. Ich will keine Politik der Naivität und wir können uns nicht damit begnügen, auf die heutige Ineffizienz unserer Rückführungspolitik zu blicken, weil sie zu gespalten ist. Jedoch glaube ich auch nicht an das derzeit vorgeschlagene Modell, wonach wir Drittländer in Afrika oder anderswo suchen sollen, in die wir die illegal nach Frankreich gekommenen Einwanderer schicken, die selbst nicht aus diesen Ländern stammen. Wir sind dabei, eine Geopolitik des Zynismus zu schaffen, die unsere Werte verrät, neue Abhängigkeiten schaffen und sich als völlig ineffizient erweisen wird. Der Schlüssel liegt schlichtweg darin, unsere Visa und Handelspräferenzen mit den Herkunfts- und Transitländern an Bedingungen zu knüpfen und diese Länder für ihre Migrationspolitik zur Verantwortung zu ziehen. Wenn wir dies gemeinsam tun, werden wir einen effektiven Ansatz verfolgen. Nur sind wir heute zu stark gespalten. Die Rückführung illegaler Migranten in das Herkunftsland muss einer der Schwerpunkte unserer Visapolitik und unserer Handelspräferenzen im Bereich der Konditionalität sein. Wir müssen auch neue operative Partnerschaften zur Bekämpfung der Schleusung von Migranten und des Menschenhandels eingehen und Frontex mobilisieren, dessen operatives Personal bald auf 10.000 Grenz- und Küstenwächter aufgestockt wird, um bei Rückführungsaktionen zu helfen und diese Struktur weiter auszubauen. Wir glauben daran. Ich habe es immer befürwortet. Ich glaube weiterhin daran, auch wenn diejenigen, die ihm gedient haben, manchmal daran zu zweifeln beginnen.

Wie Sie sehen, muss Europa auch gegen Bedrohungen und Netzwerke vorgehen, die Grenzen und Staaten ignorieren, um seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Und auch das sind Themen für die europäische Kohärenz, die über die Einwanderung hinausgehen: Terrorismus, organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Hass und Online-Kriminalität sind Themen, bei denen wir die europäischen Maßnahmen verstärken müssen. Deshalb möchte ich erstens, dass der Schengen-Rat zu einem echten Rat für innere Sicherheit der EU wird. Unsere Grenzen sind ein gemeinsames Gut. Für den Euro, das Gemeingut, das wir geschaffen haben, konnten wir eine politische Form aufbauen, die auf zwischenstaatlicher, glaubwürdiger Ebene entschieden wurde: den Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN). Unsere Grenzen sind ein Gemeingut. Wir müssen eine politische Struktur aufbauen, die es allen an ihr teilhabenden Ländern ermöglicht, gemeinsam Entscheidungen zu treffen – etwa bei Themen wie Einwanderung, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Terrorismus, Drogenhandel oder Cyberkriminalität. Verändern wir die Regierungsführung, um sie wesentlich effektiver zu gestalten. Wir müssen auch im Rahmen des Schengener Informationssystems (SIS) beim Informationsaustausch viel weiter gehen, um die Ausreise von terroristischen Kämpfern sowie die Rückkehr aus Konfliktgebieten zu verhindern, der Radikalisierung vorzubeugen und auch echte politische Maßnahmen zur Entfernung von terroristischen Inhalten, aber vor allem zur Entfernung von hasserfüllten, rassistischen und antisemitischen Inhalten zu verfolgen. Und als Europäer können wir dies von den Plattformen einfordern, die derzeit ihren Verpflichtungen in dieser Hinsicht nicht nachkommen, sei es in Form von Moderation oder Zurückhaltung. Und als Europäer können wir im Rahmen eines solchen Rates eine wirksame Politik gegen das organisierte Verbrechen und gegen Drogen verfolgen. Dabei handelt es sich um eine wahrhafte Geißel, die heute insbesondere jene Länder betrifft, die am stärksten gefährdet sind, weil sie über große Häfen und Einfallstore verfügen, oder manchmal auch, weil einige von ihnen glaubten, dass die liberalste Politik diejenige sei, welche die Kriminalisierung verhindern würde, obwohl das genaue Gegenteil der Fall ist. Auch bei diesem Thema benötigen wir einen europäischen Ansatz.

Wie Sie sehen, ist dieses starke Europa sowohl ein Europa der Verteidigung als auch ein Europa, das unsere Grenzen schützt. Das ist ein Paradigmenwechsel, der darauf beruht, dass wir Europäer, wenn wir uns diesen veränderten Regeln, dieser Eskalation der Gewalt, dieser Entfesselung von Kapazitäten auf unserem Kontinent und darüber hinaus stellen wollen, uns in Bezug auf strategische Konzepte und Ressourcen anpassen und die volle Kontrolle und Verantwortung für unsere Grenzen übernehmen müssen.

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Das zweite Schlüsselelement der Antwort ist Wohlstand. Ja, wenn wir während dieser tiefschürfenden Veränderungen, die ich bereits erwähnt habe, souverän sein wollen, müssen wir ein neues Wachstums- und Produktionsmodell aufbauen. Das ist unerlässlich, denn es gibt keine Stärke ohne eine solide wirtschaftliche Grundlage. Andernfalls verkünden wir unsere Stärke, die jedoch rasch von anderen finanziert wird. Ebenso wenig kann es ökologischen Wandel ohne ein solides Wirtschaftsmodell geben. Und es kann kein Sozialmodell – eine Stärke Europas – geben, wenn nicht das zur Umverteilung nötige Geld generiert wird. Europa war lange Zeit der wichtigste Trumpf für unser Wachstum in einem ordoliberalen Modell des Wettbewerbs und des freien Handels, und zu einer Zeit, in der grundsätzlich andere Regeln galten: Rohstoffe schienen unbegrenzt, es gab keine globale Rohstoffpolitik, der Klimawandel wurde ignoriert, der Handel war frei und alle hielten sich an dessen Regeln. Das war die Welt, in der wir bis vor kurzem lebten. Innerhalb weniger Jahre hat sich alles, wirklich alles, verändert: Rohstoffe, kritische Materialien und Energie sind begrenzt. Und was fossile Energiequellen angeht, so produzieren wir diese nicht auf unserem Boden, sondern wir sind im Gegensatz zu den USA und vielen anderen abhängig. Wir benötigen kritische Materialien, und China hat damit begonnen, mit ihnen zu handeln und sich davon viele Kapazitäten zu sichern. Und was den Handel anbelangt, so ändern sich, wie ich schon sagte, de facto die Regeln. Wir befinden uns im Begriff der Rückkehr zum Naturzustand.

Dennoch haben wir klare Ziele: Wir wollen mehr Wohlstand generieren, um unsere Lebensstandards zu verbessern und Arbeitsplätze für alle zu schaffen. Wir wollen die Kaufkraft der Europäer sichern; das ist die sehr konkrete Sorge aller unserer Landsleute und das Ziel unserer Europapolitik. Wir wollen unsere Volkswirtschaften dekarbonisieren und die Herausforderungen der Biodiversität und des Klimas angehen. Wir wollen unsere Souveränität sichern und daher über unsere strategischen Produktionsketten bestimmen. Und wir wollen eine offene Wirtschaft bewahren, um weiterein eine große Handelsmacht zu bleiben.

Unsere Ziele sind klar, aber wir erreichen sie nicht und mit unseren derzeitigen Regeln können wir sie auch nicht erreichen. Wir erreichen unsere Ziele nicht. Wir erreichen sie nicht, weil wir nicht mit der Neuordnung der Welt Schritt halten. Wir erreichen unsere Ziele nicht, weil wir zu viel regulieren, zu wenig investieren, zu offen sind und unsere Interessen nicht ausreichend vertreten. Das ist die Realität.

Also müssen wir auch ein neues Paradigma für Wachstum und Wohlstand aufbauen, wenn wir die fünf Ziele, an die ich soeben erinnert habe, einhalten wollen. Denn wenn wir dies mit unseren derzeitigen Regeln für Wettbewerbs-, Handels-, Geld- und Steuerpolitik tun, werden wir keinen Erfolg haben. Und das wird sich durch eine einfache Anpassung zeigen: Wir werden die Produktion verlieren.

Und warum empfinde ich auch hier ein Gefühl der Dringlichkeit? Zunächst einmal, weil ich diese Kluft der letzten 30 Jahre zwischen Europa und den USA sehe, und auch, weil die Neuverteilung der Produktionsfaktoren jetzt stattfindet. Denn die Frage, wo die grünen Technologien, die Kapazitäten für künstliche Intelligenz und die Berechnungen sein werden, entscheidet sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren; aller Voraussicht nach eher in den nächsten fünf als zehn Jahren. Und daher ist jetzt der Moment gekommen, sich der Geschichte zu stellen. Und deshalb ist es jetzt an der Zeit, die Überregulierung zu stoppen, die Investitionen zu steigern, unsere Regeln zu ändern und unsere Interessen besser zu schützen. Das ist das Ziel. Das ist das neue Modell.

Und im Wesentlichen ist es dieser Wohlstandspakt, den wir basierend auf einigen sehr einfachen Voraussetzungen schaffen müssen.

Zunächst einmal muss mehr und umweltfreundlicher produziert werden. Die kohlenstofffreie Produktion ist eine Chance für die Reindustrialisierung und den Erhalt unserer Industriebranchen in Europa. Das hat sich in den letzten Jahren gezeigt: Von Wasserstoff über Halbleiter bis hin zu elektrischen Batterien hat Frankreich durch den Wandel wieder industrielle Kapazitäten geschaffen. Und deshalb müssen wir aufhören, Dekarbonisierung und Wachstum als sich gegenseitig ausschließend zu betrachten. Wenn wir es richtig machen und es durch neue Investitionssektoren geschieht, funktioniert es – und das ist das Modell, das wir vorantreiben. Wir sind auf dem besten Weg, Vorreiter im Batterie-Sektor zu werden. Das Ziel, 100 % unseres Batteriebedarfs bis 2030 durch europäische Batterien zu decken, werden wir erreichen. Und auch bei den Halbleitern werden wir mit dem Ziel, den Marktanteil Europas bis 2030 zu verdoppeln, aufholen. Wie ich bereits erwähnte, liegen die Ergebnisse von Dünkirchen bis Fos vor – im Hinblick auf Arbeitsplätze, Ausbildung, attraktive sowie innovative Wirtschaftsstandorte und Verringerung unserer Abhängigkeiten. Und so ermöglicht und begleitet Europa die grüne Reindustrialisierung, und das wird es uns erlauben, uns wieder Kapazitäten anzueignen, der erste Kontinent ohne Plastikverschmutzung und ein zentraler Kontinent für Dekarbonisierung und Elektrifizierung zu sein.

Die zweite Voraussetzung lautet: Vereinfachung. Seit Jacques Delors vor dreißig Jahren den Binnenmarkt ins Leben gerufen hat, vertiefen und erweitern wir ihn durch immer mehr Integration. Das ist deshalb sinnvoll, weil der Binnenmarkt für Vereinfachung steht – sprich, die Zusammenführung von 27 Regelsystemen zu einem. Enrico Letta hat uns in seinem Bericht gerade vorgeschlagen, diese Modernisierung und Arbeit im Dienste unserer Landsleute und Unternehmen fortzuführen. Ich unterstütze die Ausweitung des Binnenmarkts auf Sektoren, die er bislang nicht betraf: Energie, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. Dies ist unerlässlich, weil es uns ermöglicht, die Fragmentierung unserer Regeln in diesen maßgeblichen Sektoren zu verringern, erfolgreich mehr Innovation freizusetzen, die Transaktionskosten zu senken, Kapazitäten zu erhöhen sowie Innovation und Investitionen zu steigern und unseren Interessen besser zu dienen.

Wir müssen zudem Änderungen in unserer Wettbewerbspolitik in Angriff nehmen, um europäische Wirtschaftsgrößen zu schaffen und Unternehmen in unseren strategischen Sektoren mit neuen Investitionen auf EU-Ebene massiv zu unterstützen. Darauf werde ich gleich zurückkommen. Vereinfachung bedeutet also nicht nur mehr Binnenmarkt, sondern auch die Aufhebung der Regeln, die zahlreiche Grenzen zwischen den 27 EU-Ländern errichten, sodass unsere Start-ups sofort Zugang zum Binnenmarkt, also dem europäischen Markt, haben und so keinen Wettbewerbsnachteil im Vergleich zu chinesischen oder amerikanischen Start-ups erleiden. Unsere Stärke liegt in unseren Binnenmarkt, also 450 Millionen Verbrauchern. Der Binnenmarkt stellt eine Entscheidung zur Vereinfachung dar.

Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir dem komplizierten Europa ein Ende setzen müssen. Wir haben nützliche Regelungen eingeführt, die Meilensteine, Anhaltspunkte und Kursmarken waren. Aber wir sind manchmal zu stark ins Detail gegangen, was die Wirtschaftsakteure daran gehindert hat, sich auf lange Sicht zu orientieren, und ihnen Wettbewerbsnachteile gegenüber ihrer internationalen Konkurrenz gebracht hat. Wir müssen den Mut zur Vereinfachung aufbringen, in erster Linie durch eine Überprüfung der Schwellenwerte und der Verpflichtungen, die auf den Kleinstunternehmen und KMU lasten. Wir müssen unsere Unternehmen, unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Regionen im Vorfeld besser einbeziehen und ihre Einschränkungen bereits bei der Ausarbeitung von Normen und dann auch deren Umsetzung berücksichtigen. Wir müssen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit– mehr Ehrgeiz bei den großen Herausforderungen, mehr Unterstützung, mehr Vertrauen, weniger Text – und zum Subsidiaritätsprinzip zurückkehren, das uns ermöglicht, ehrgeizige Ziele, dabei gegebenenfalls europäische Regeln, aber auch nationale Flexibilität bei der Umsetzung zu haben. Und das ist auch der Grund, warum wir in den kommenden Jahren und der nächsten Amtszeit mehrere Phasen der Vereinfachung unserer Vorschriften durchführen müssen, ohne unsere Ambitionen oder die Errungenschaften in den von uns beschlossenen wichtigsten Bereichen zu schmälern, sondern indem wir die Umsetzung vereinfachen und unsere Wirtschaftsakteure besser unterstützen.

Die dritte Voraussetzung für diesen Wohlstandspakt ist, dass wir die Industriepolitik vorantreiben. Das war vor sieben Jahren noch ein Tabu, wenn ich Sie daran erinnern darf.

In Bezug auf die Industriepolitik hieß es, dass dies wirklich nicht das Ziel Europas sei. Und zu einem Zeitpunkt, an dem viele auf ein interessantes Konzept zurückkommen – nämlich das des Bleiberechts –, ist es die Industriepolitik, die eine Antwort bietet. Sie bietet die Möglichkeit, überall auf europäischem Boden zu produzieren. Dort, wo unser Europa, das sich zu sehr auf ein Wettbewerbsmodell – mitunter auch auf ein innereuropäisches Modell der Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenz – gestützt und seine eigenen Ungleichgewichte geschaffen hat, die durch die Kohäsionspolitik nicht ausreichend ausgeglichen wurden und die im Übrigen zu jenen demografischen Ungleichgewichten geführt haben, die viele unserer Partner erleben.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Industriepolitik ein Schlüsselfaktor für unseren Wohlstand sowohl im Verhältnis zum Rest der Welt als auch für die gelungene Strukturierung des europäischen Raums ist. Made in Europe ist ein Thema, bei dem großes deutsch-französisches Einvernehmen herrscht. Bundeskanzler Scholz hat in seiner Prager Rede im August 2022 dazu aufgefordert. Seit sieben Jahren ist dies das Herzstück unserer Strategie und jener Versailles-Strategie, die wir in Europa aufgebaut haben. Diese Industriepolitik, die wir in den letzten Jahren durch Innovation geschaffen haben und die vom Chips Act über alle Maßnahmen zu Clean Tech und anderen Themen reicht, muss Ziele zur Produktion auf europäischem Boden, zu Ausbildungsmaßnahmen und zu gemeinsamen Investitionen haben. Sie muss das festigen, was wir bereits in den strategisch wichtigen Sektoren getan haben: Strategische Rohstoffe, Halbleiter, Digitaltechnik und Gesundheit, wo die europäische Politik erneut eine Antwort auf die Bedürfnisse unserer Landsleute ist, denn nur mit dieser Politik können wir auf den aktuellen Medikamentenmangel oder auf das Thema des Zugangs zu Patientinnen und Patienten reagieren.

Sie sehen also: Ja, wir müssen die Industriestrategie in diesen Sektoren weiter festigen. Die Vorgehensweise funktioniert – wir müssen sie nun auf die strategisch wichtigen Sektoren von morgen ausweiten, ohne auf das Aufkommen von Abhängigkeiten zu warten. Entscheiden wir uns nun dafür, Europa bis 2030 in fünf der am stärksten aufstrebenden und strategisch wichtigsten Sektoren zu einem weltweiten Vorreiter zu machen. Künstliche Intelligenz: Es gilt, massiv in Talente sowie in Rechenkapazitäten zu investieren. Wir verfügen über 3 % der weltweiten Rechenkapazitäten. Stellen Sie sich vor, wir in Europa haben 3 %. Es besteht also Aufholbedarf: Bis 2030-2035 müssen wir mindestens 20 % erreichen, wenn wir glaubwürdige Akteure sein wollen. Quanteninformatik. Raumfahrt, wo wir die Trägerrakete Ariane 6 konsolidieren müssen. Und das sage ich zu einem Zeitpunkt, an dem wir so viele verschiedene Dinge hören. Ariane 6 ist die Voraussetzung für einen europäischen Zugang zum Weltraum. Sie ist eine absolute Notwendigkeit. Aber wir brauchen über den NewSpace und die Weltraummissionen an Bord hinaus auch ein Europa der Weltraum-Ziele. Biotechnologie ist natürlich ein weiterer Sektor. Und neue Energien: Wasserstoff, modulare Reaktoren und Kernfusion.

Die Europäische Union benötigt zumindest für diese fünf strategisch wichtigen Branchen dezidierte Finanzierungsstrategien. Dafür benötigen wir die richtigen Instrumente. Wir müssen klare Definitionen finden, in diese Sektoren investieren und gemeinsam handeln, aber wir benötigen, wie ich bereits sagte, die richtigen Instrumente. Also haben wir begonnen, geeignete Instrumente zu schaffen: und zwar unsere berühmten „Wichtigen Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse“ (IPCEI). Mit ihnen sind unsere Produzenten gut vertraut. Sie waren von struktureller Bedeutung, als wir 2018 mit Deutschland beschlossen haben, voranzugehen. Doch auch an dieser Stelle müssen wir uns wieder neu aufeinander abstimmen. Nach dem Inflation Reduction Act und chinesischem Überinvestitionen funktionieren diese Instrumente nicht mehr, weil sie zu langsam und zu unsicher sind. Wir müssen also gewissermaßen neue IPCEIs entwerfen. Mit anderen Worten: Wir müssen unseren Herstellern größere Sichtbarkeit verleihen, die Vorlaufzeiten um mindestens die Hälfte verkürzen. Wir benötigen so simple Mechanismen wie Steuergutschriften, die den Herstellern die Möglichkeit zur Planbarkeit über fünf bis zehn Jahre geben, während wir in sehr kurzen Zeiträumen – drei bis sechs Monaten – reagieren und die zu unterstützenden Schlüsselsektoren zu einem Erfolg machen.

Doch wir sehen: In Sektoren wie den kritischen Arzneimitteln oder der Chemie verlieren wir heute Kapazitäten, weil unsere Instrumente nicht schnell, effizient und sichtbar genug sind. Doch wir müssen unterschiedliche Regeln für die Industriepolitik und für die Wettbewerbspolitik akzeptieren. In unseren Verträgen müssen wir die europäische Präferenz in den strategisch wichtigen Bereichen der Verteidigung und Raumfahrt festschreiben. Denn unsere Konkurrenten haben dies bereits getan. Wenn es keine europäische Präferenz für den Weltraumsektor gibt, wird es auch keine Raumfahrt mehr geben. Dasselbe gilt für Atomenergie. Wer hat schon erlebt, dass das US-Verteidigungsministerium oder das US-Energieministerium ein aufstrebendes europäisches Unternehmen finanziert? Ich habe viele amerikanische Start-ups gesehen, von denen es heißt, dass sie nur aus unternehmerischem Genie heraus entstanden sind, und die von der amerikanischen Politik stark subventioniert wurden. Tun wir dasselbe. Wir stehen im Wettbewerb. Europäische Präferenz in den strategischen Sektoren – Verteidigung und Raumfahrt – und eine Ausnahmeregelung vom freien Wettbewerb zur Unterstützung der sich im Umbruch befindlichen Schlüsselsektoren wie jenen der künstlichen Intelligenz und der grünen Technologien. Das ist unerlässlich. Nur so können wir auf die Übersubventionierung durch China und die USA reagieren.

Unter den strategisch wichtigen Sektoren gibt es zwei, auf die ich genauer zu sprechen kommen möchte: Energie und Landwirtschaft. Energie, weil dies zweifellos der Sektor ist, den wir am stärksten reformiert haben. Dies ist jedoch auch der Sektor, in dem wir die grundlegendsten Veränderungen benötigen werden. Wir müssen uns des Aufbaus eines Europas der Atomenergie annehmen; und das außerdem in Anbetracht dessen, dass das Euratom-Projekt zu den Ambitionen der europäischen Gründungsverträge von 1957 gehört. Die Herausforderungen sind groß, doch wir brauchen sie. Europa hat aktuell in puncto preislicher Wettbewerbsfähigkeit ein Problem beim Faktor Arbeit. Mit unseren Reformen versuchen wir, darauf zu reagieren. Aber in Anbetracht unseres Sozialmodells wissen wir, dass wir in dieser Hinsicht Grenzen haben. In puncto Preiswettbewerbsfähigkeit haben wir zudem ein Problem bei der Energie, weil wir uns in Abhängigkeitsverhältnissen befinden und im Moment keine fossilen Kohlenwasserstoffe produzieren. Je schneller wir den Übergang schaffen, desto schneller werden wir in dieser Hinsicht wieder wettbewerbsfähig werden. Also ja, in Europa erzeugte kohlenstofffreie Energie ist der Schlüssel, um Klima, Souveränität und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Einklang zu bringen. Und deshalb brauchen wir eine Strategie, die Energieeffizienz, den Einsatz erneuerbarer Energien und den Einsatz von Atomenergie kombiniert. So wird Europa zu einer echten Größe im Bereich der Elektrizität. Das ist der Schlüssel.

In den letzten Jahren haben wir den Fehler begangen, den europäischen Markt für Wasserstoff und Elektrofahrzeuge bereits zu fragmentieren. Wir brauchen absolute technologische Neutralität. Im Grunde genommen müssen wir ein Europa des freien Verkehrs von kohlenstofffreien Elektronen aufbauen. Verzeihen Sie, wenn ich das so ausdrücke, aber das ist genau das, was wir tun müssen. Es spielt keine Rolle, ob sie mit erneuerbaren Energien oder mit Atomkraft erzeugt werden: Wenn wir auf europäischem Boden kohlenstofffreie Elektronen produzieren können, stellt das deshalb eine Chance dar, weil dadurch der Einsatz von kohlenstoffhaltigen Elektronen und deren Import vermieden wird. Wir brauchen also technologische Neutralität. Wir müssen uns dazu verpflichten, viel mehr Kapazitäten im Bereich der erneuerbaren Energien und der Atomenergie zu schaffen. Wir müssen die Atomallianz, die wir geschaffen haben und die etwa 15 EU-Mitgliedstaaten umfasst, festigen, uns für dieses Europa der Atomenergie einsetzen und in die Stromverbundnetze in Europa investieren. Das ist der Schlüssel. Damit in ganz Europa sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen Verträge unterzeichnen können, die Transparenz und Sicherheit für die Versorgung mit preiswertem, kohlenstofffreiem Strom aus europäischer Produktion bieten.

Der andere strategisch wichtige Sektor, auf den ich zurückkommen möchte, ist die Landwirtschaft. Wir haben viel – wenn auch eher defensiv – über sie gesprochen, angesichts der geäußerten Wut. Aber die Wut unserer Landwirte war nicht gegen Europa gerichtet. Dessen sind sie sich sehr bewusst; insbesondere in Frankreich, für das Europa fast 10 Milliarden Euro an Subventionen für unsere Landwirtschaft bedeutet und wo Europa der einzige für uns als landwirtschaftlicher Exporteur relevante Markt ist. Die Wut der Landwirte richtet sich gegen die Überregulierung, die Komplexität, die abstrusen Normen, die schlechte Anwendung des europäischen und französischen Rechts. Deshalb wendeten der Premierminister sowie die Ministerinnen und Minister zu diesem Thema große Bemühungen auf, um einen Fahrplan zu erstellen, der bereits zu mehr als drei Viertel umgesetzt ist, der Vereinfachung dient und Unterstützung bieten soll.

Europa ist zudem für die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung, weil es auch in dieser Hinsicht um Industriepolitik und Souveränität geht. Das habe ich schon zuzeiten der Pandemie betont. Wer wäre so verrückt, die Verantwortung für seine Lebensmittelversorgung zu delegieren? Wir haben die Pflicht, keine Lebensmittelabhängigkeiten entstehen zu lassen. Solche Abhängigkeiten gab es bereits und wir haben begonnen, sie zu korrigieren. Das gilt insbesondere bei tierischen Proteinen, die wir als alte geostrategische Entscheidung der Nachkriegszeit gewissermaßen an andere Kontinente delegiert hatten. Wie müssen jedoch unbedingt weiter daran arbeiten, unsere Nahrungsmittelsouveränität zu stärken.

Und es ergibt keinen Sinn, dass die Landwirtschaft jedes Mal die Anpassungsvariable bei Handelsverträgen ist, wie ich von so vielen Kollegen höre. Nein! Nein! Wir müssen unsere Lebensmittel produzieren, wir müssen weiterhin importieren und exportieren, wir müssen dies auf offene Art und Weise tun, aber wir dürfen nicht abhängig sein. Viel Glück an dem Tag, an dem wir Europäer völlig abhängig von pflanzlichem Eiweiß werden, an dem Tag, an dem wir für einen Teil unserer Ernährung völlig abhängig werden! Es wird dann ein Leichtes sein, zu erklären, dass wir die Souveränität bei Halbleitern oder anderen Bereichen wiederhergestellt haben. Stellen Sie sich vor, Sie treten vor Ihre Landsleute und verkünden: Wir haben alles richtig gemacht. Wir dachten nur, dass Lebensmittel stets frei zirkulieren würden. Lebensmittelsicherheit ist eine geopolitische Frage. Und so ist die Landwirtschaft eine Frage der Souveränität, der Beschäftigung und der Produktion.

Wir brauchen eine starke, vereinfachte GAP, welche die Komplexität und den Verwaltungsaufwand verringert. Doch sowohl bei unserer Landwirtschaft als auch unserer Fischerei bedarf es nachhaltiger Begleitung bei Übergängen sowie der Änderung von Praktiken, des Ausstiegs aus dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln überall dort, wo es technologische Lösungen gibt, und der Erneuerung unserer Fischereiflotten im Sinne der Dekarbonisierung, wie wir es erst kürzlich in unseren Überseegebiete getan haben. Wir müssen diesen Sektor entschieden verteidigen und politische Maßnahmen anwenden zur besseren Verbraucherinformation, zur Begleitung im Umgang mit Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt, zum Schutz unserer Produzenten vor unlauteren Praktiken und zu ihrem Schutz durch eine wahrhaftig einheitliche Umsetzung auf europäischer Ebene. Dies fordern wir durch europäische Gesundheits- und Kontrollbehörden, die unlautere Praktiken zwischen europäischen Akteuren verhindern, und durch eine echte europäische Zollbehörde, die dafür sorgt, dass von uns importierte Produkte, die manchmal nur in einem Hafen umetikettiert werden, ehe sie zurück auf den europäischen Markt kommen, denselben Produktionsregeln unterliegen wie unsere Produkte, wenn dies vorgeschrieben ist.

Das ist der Schlüssel zu einer ehrgeizigen Industriepolitik.

Das führt mich zur dritten Voraussetzung dieses Wohlstandspakts: die Überarbeitung unserer Handelspolitik. Und in dieser Hinsicht findet einer der in meinen Augen grundlegendsten Paradigmenwechsel statt. Handelspolitische Öffnung – ja, aber unter Verteidigung unserer Interessen. Wie ich bereits sagte, kann dies jedoch nicht funktionieren, wenn wir weltweit die Einzigen sind, die sich an die vor 15 Jahren festgelegten Handelsregeln halten. Wir können nicht die Einzigen sein; vor allem dann nicht, wenn China und die USA sie nicht mehr einhalten, indem sie kritische Sektoren übermäßig subventionieren. Das wird nicht funktionieren können. Und im Übrigen funktioniert es tatsächlich auch nicht. In dieser Hinsicht sind wir entweder zu naiv oder pflegen eine Kultur der Schwäche.

Wir haben echten Einfluss. Wir sind ein Markt mit 450 Millionen Verbrauchern. Das ist eine immense Wirtschaftskraft. Wir müssen unsere Gesundheit gut schützen, indem wir unsere Gesundheitsstandards strikt anwenden. Wir müssen unser Sozialmodell schützen, indem wir unsere Sozialstandards miteinbeziehen. Und wir müssen unsere klimapolitischen Ziele wahren, indem wir unsere Umweltstandards verteidigen. Andernfalls werden wir einen Kontinent erschaffen, der die einheimischen Produzenten übermäßig einschränkt und durch seine Handelspolitik die Einschränkungen für die importierten Produkte aufhebt. Großartig: Wir werden zu einem Verbrauchermarkt werden, auf dem es keine Produzenten mehr gibt, die unseren Zielsetzungen entsprechen, und auf dem wir durch die so geschaffenen Abhängigkeiten gezwungen sind, Produkte zu konsumieren, die nicht unseren Standards entsprechen. Das ist die Realität. Wenn wir also unseren Zielen gerecht werden wollen, müssen wir unsere Handelspolitik von Grund auf neu ausrichten.

Und damit haben wir begonnen: Das mit Kanada abgeschlossene Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA) ist aufgrund der von uns geleisteten Arbeit und Anpassungen ein gelungenes Abkommen. Ich sage das, weil wir uns nicht der politischen Aufwiegelung hingeben dürfen. Und ich bin traurig über das, was ich in den letzten Wochen mitunter auch im französischen Diskurs gesehen habe. Wir dürfen nicht in die Ablehnung jedes Handelsabkommens abrutschen, denn ansonsten können wir sagen: „Viel Spaß und willkommen im Land der Demagogie!“ All jene, die uns erklären, dass Handel schlecht ist, sollten versuchen, unseren Landwirten zu erklären, dass sie mit CETA gegenüber Kanada auf der Gewinnerseite stehen. Warum gewinnen wir mit CETA? Weil wir Spiegelklauseln darin festgeschrieben haben. Weil es sich eben um ein Handelsabkommen der neuen Generation handelt, das es unseren Käse- und Milchproduzenten ermöglicht, nach Kanada zu exportieren, und das aber dort, wo es unterschiedliche Normen für Fleisch gab, den Import genau jenes Fleisches verhindert hat, das nicht den europäischen Normen entsprach.

Wir stehen nicht für eine handelspolitische Abschottung. Die Abschottung wäre für die europäischen Hersteller, Landwirte und Produzenten ein wirtschaftlicher Rückschritt. Wir stehen jedoch für fairen Wettbewerb und damit für eine überarbeitete Handelspolitik, wie wir es auch mit Neuseeland in die Tat umgesetzt haben. Moderne und faire Handelsabkommen sind solche, in denen die Einhaltung des Übereinkommens von Paris eine wesentliche Klausel ist, und die starke Klauseln zu den Produktionsbedingungen für bestimmte sensible Güter beinhalten, insbesondere für landwirtschaftliche Güter. Das macht den Unterschied aus, insbesondere zum geplanten Mercosur-Abkommen der alten Generation, wie es bislang ausgehandelt wurde.

Wir müssen systematisch an den Einsatz von Instrumenten für fairen Wettbewerb herangehen. Wir müssen Spiegelklauseln in unsere Handelsabkommen aufnehmen. Wir müssen eine große Gegenseitigkeitsstrategie einleiten, um Spiegelmaßnahmen in neuen europäischen Normen durchzusetzen und bestehende Normen zu überprüfen. Dabei müssen wir auch die CO2-Bilanz von Produkten so ausweisen, dass sie den Verbrauchern bekannt wird, und dass diese dann erkennen, dass Made in Europe fast immer besser für den Planeten ist. Und damit wir uns nicht falsch verstehen: Wenn ein Gut die wichtigsten Normen nicht erfüllt, dann sollte es nicht einfach so in die EU importiert werden können.

Klare Regeln, klare Kontrollen, und das mit gemeinsamen Zollbehörden. Das ist die die einzig glaubwürdige Handelspolitik, die auch in gewisser Weise einen gerechten Schutz unserer Grenzen und unserer Produzenten darstellt, um nicht der Deindustrialisierung nachzugeben. Die Kohlenstoffsteuer an den Grenzen ist ein Instrument, das den Weg ebnet, und wir müssen es ausweiten, ergänzen und verbessern, damit es nicht umgangen werden kann und auch auf verarbeitete Produkte anwendbar ist.

Schließlich müssen wir unsere Instrumente für die wirtschaftliche Sicherheit stärken. An der Seite von Premierminister Rutte hatte ich dies in Den Haag angesprochen: die Sicherheit unserer Arbeitsplätze, unserer Unternehmen, unseres kreativen Schaffens. Besserer Schutz unseres gewerblichen und geistigen Eigentums, bessere Filterung außereuropäischer Investitionen in sensiblen Sektoren, besserer Schutz vor physischen Angriffen, beispielsweise auf unsere Unterwasser- und Telekommunikationskabel oder auch auf unsere europäischen Satellitenkonstellationen wie Galileo, Copernicus oder bald auch Iris. Auch die wirtschaftliche Sicherheit steht im Mittelpunkt dieser Handelsstrategie.

Die fünfte Voraussetzung dieses gemeinsamen Wohlstands ist der Kampf für Innovation und Forschung. Wir müssen einen starken Fokus auf die Produktivität richten. Und dafür müssen wir eine bedeutende Innovations- und Forschungsmacht sein.

Für viele unserer Länder sind wir das bereits, jedoch müssen wir noch mehr Talente ausbilden und diese vor allem in unseren Labors, Universitäten und großen Zentren halten und andere anziehen – das spreche ich in diesem Ort des Wissens aus. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns der bestehenden Risiken bewusst sein. Die amerikanische und auch die asiatische Konkurrenz ist da.

Dazu müssen wir das Ziel bekräftigen, 3 % des europäischen BIP für Forschung auszugeben. Das ist eine Priorität. In Frankreich haben wir erneut investiert, aber wir müssen die Anstrengungen noch fortsetzen, und zwar was die öffentliche und vor allem die private Finanzierung mit zusätzlichen Forschungspartnerschaften anbelangt. In ganz Europa müssen wir jetzt festigen und zeigen, dass dies ein Schlüsselelement dieses Wohlstandspakts ist. Das Programm Horizont Europa, mit dem unsere Forscherinnen und Forscher gut vertraut sind, muss weiter gestärkt werden, indem wir uns auf die wirksamsten Programme konzentrieren, insbesondere den Europäischen Forschungsrat.

Bei einem Paradigmenwechsel in diesem Bereich geht es auch darum, wieder mehr Risiken einzugehen. Der Europäische Innovationsrat hat in den letzten Jahren genau das erreicht und neue Hürden genommen, aber wir müssen bei den bahnbrechenden Innovationen noch viel weiter gehen. Und wir müssen diese europäische Behörde für Forschungsprojekte der Verteidigung (DARPA), die noch nicht voll einsatzfähig, aber mit den besten wissenschaftlichen Teams in jedem Fachbereich betreut ist, die Risiken und damit Kapitalverluste in Kauf nehmen, wenn Projekte nicht funktionieren, denn genau das ist der Schlüssel zu bahnbrechenden Forschungsprojekten. Kurz gesagt: Wir müssen uns dazu verpflichten, ein Kontinent zu sein, der in die modernste Grundlagenforschung und bahnbrechende Innovationen investiert. Denn durch diese Entdeckungen könnten Quantencomputer, die Materialien der Zukunft, Mikrochips und energiesparende Batterien Europa in der geopolitischen Landschaft des Wachstums neu positionieren. Und ob es nun um den Ausstieg aus den Pflanzenschutzmitteln geht, ob es darum geht, das Ziel eines ganzheitlichen Gesundheitswesens und damit die Verbindung zwischen Umwelt und menschlicher Gesundheit zu erreichen oder ob es darum geht, mit einem europäischen Forschungs- und Investitionsplan für Behandlungen gegen Krebs, Alzheimer und neurodegenerative Krankheiten oder seltene Krankheiten eine echte Lösung zu finden – Europa ist der richtige Maßstab für diese großen Themen der Forschung, der Reinvestitionen und der gemeinsamen Programme.

Wir brauchen also klare und ehrgeizige Ziele, und der Schlüssel dazu ist die Ausbildung und die Fähigkeit, unsere Talente zu halten und anzuziehen. Ich habe viel über seltene Ressourcen und kritische Materialien gesprochen, aber zweifellos ist die knappste Ressource morgen noch mehr als heute das Humankapital, die Talente. Und genau deshalb ist diese Bildungs-, Forschungs- und Hochschulpolitik für unser Europa absolut entscheidend.

Sie muss natürlich auch mit einer Politik zur Förderung und Entwicklung unserer Start-ups einhergehen, womit wir mit Scale-Up Europe begonnen haben – mit Talent und Kapital, um eben ein Kontinent der Innovation zu sein.

Und die letzte Voraussetzung für diesen Wohlstandspakt ist genau die Fähigkeit, Geld zu investieren. Entschuldigen Sie, wenn ich das so direkt sage. Ja, wir haben heute in Europa Spielregeln, die nicht mehr angemessen sind, denn wenn wir uns Verteidigung und Sicherheit, künstliche Intelligenz, die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft und Clean Tech ansehen, dann stehen wir vor einer Investitionsmauer.

Alle Zahlen stimmen in den Berichten überein. Und ich lese alle Berichte. Ich sehe mir an, was Herr Letta und Herr Draghi schreiben, was die Kommission geschrieben hat, und es gibt einen Konsens. Alle sagen, dass die Zahlen jährlich zwischen 650 und 1.000 Milliarden höher liegen. Das ist viel und diese Investition kann nicht aufgeschoben werden. Denn wir können unsere Sicherheit nicht auf morgen verschieben. Wir können nicht über verschüttete Milch weinen. Wir können diese Investitionen nicht auf morgen verschieben, denn sie werden jetzt getätigt und die Investitionsentscheidungen werden jetzt getroffen oder nicht. Also müssen wir jetzt, in diesem Jahrzehnt, diese massiven Investitionen tätigen. Und im Vergleich zu den USA und China befinden wir uns im Rückstand.

Diese massive Investition muss also in gewisser Weise auch hier durch einen Paradigmenwechsel unserer gemeinsamen Regeln erfolgen.

Ein erster Punkt scheint mir nichtig zu sein: Wir können keine Währungspolitik betreiben, deren Ziel allein Inflation betrifft. Und das noch dazu in einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Dekarbonisierung ein struktureller Preissteigerungsfaktor ist. Wir müssen die theoretische und politische Debatte zu dieser Thematik anstoßen, um herauszufinden, wie wir in die Zielsetzungen der Europäischen Zentralbank zumindest ein Wachstumsziel oder sogar ein Ziel der Dekarbonisierung, aber allenfalls ein Klimaziel für unsere Volkswirtschaften integrieren können. Dies ist absolut unerlässlich.

Der zweite Punkt ist, dass wir unsere gemeinsamen Investitionskapazitäten erhöhen müssen. Wir müssen, wie ich bereits erwähnte, mehrere hundert Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich investieren. In den letzten Jahren bestand die Antwort auf europäischem Niveau in der Gewährung nationaler Flexibilitäten durch staatliche Beihilfen. Dies ist keine nachhaltige Antwort, weil sie den Binnenmarkt fragmentiert. Sie steht im Widerspruch zu dem, was ich Ihnen vorhin gesagt habe. Wir brauchen gemeinsame Kapazitäten und daher brauchen wir wieder einen gemeinsamen Investitionsschock, einen großen kollektiven Haushaltsinvestitionsplan. Wir brauchen Subventionen.

Nun, ich möchte an dieser Stelle nicht voreilig sein und will, dass diese Fragen und Themen mit all unseren Partnern abgestimmt werden. Geht es um eine gemeinsame Kreditaufnahmekapazität? Oder geht es darum, die Mechanismen zu nutzen, die es bereits gibt, wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus oder andere? Im Grunde genommen muss es uns gelingen, die finanzielle oder zumindest die haushaltspolitische Handlungsfähigkeit unseres Europas zu verdoppeln. Wir brauchen diesen öffentlichen Investitionsschock, um öffentliche Gelder in diese Sektoren zu investieren, was wiederum voraussetzt, dass die so heikle Frage der Eigenmittel der Union erneut aufgeworfen wird. Das befürworte ich und ich denke, dass wir zusätzliche Eigenmittel aufwenden müssen, ohne die europäischen Bürgerinnen und Bürger zu belasten: CO2-Steuer an den Grenzen, Einnahmen aus dem europäischen Emissionshandelssystem, Besteuerung von Finanztransaktionen – wie es Frankreich tut –, Besteuerung der Gewinne multinationaler Unternehmen, wo sie tatsächlich erzielt werden, und Nutzung der Ressourcen aus dem Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS), also jener Steuer, die von Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern bei der Einreise in die Union gezahlt wird. Es gibt unzählige Eigenmittel, die keine Unionsbürgerinnen und -bürger betreffen, die für diesen Haushalt verwendet werden können.

Wir müssen über die Währungspolitik und unsere gemeinsame Haushaltspolitik hinaus, die durch diesen Plan von zusätzlichen 1.000 Milliarden Euro an finanziellen Mitteln viel ambitionierter und stärker gestaltet werden muss, private Investitionen und unsere privaten Finanzierungskapazitäten verstärkt ankurbeln. Jedes Jahr begeht unser Europa hauptsächlich zwei Fehler. Ich würde sogar sagen, drei.

Der erste ist, dass Europa viel spart. Wir häufen Ersparnisse an. Wir sind ein sehr reicher Kontinent mit äußerst wettbewerbsfähigen Akteuren. Aber weil unser Kapitalmarktsystem nicht integriert ist, fließen diese Ersparnisse nicht in die richtigen Sektoren und Orte. Das ist der erste Fehler.

Zweiter Fehler: Wir gehen nicht genug Risiken ein. Denn wir haben eine stark von Intermediären geprägte Wirtschaft – 75% laufen über Banken und Versicherungen, und diesen wurden Regeln auferlegt, die sie daran hindern, in Aktien und Risiken zu investieren.

Dritter Fehler: Jedes Jahr werden unsere Ersparnisse in Höhe von etwa 300 Milliarden Euro pro Jahr zur Finanzierung der USA verwendet. In jedem Fall nicht-europäische Akteure und in erster Linie amerikanische Akteure, sei es mit Staatsanleihen oder Risikokapital. Das ist absurd. Wir müssen also auf diese drei Fehler reagieren, und zwar durch die Schaffung eines echten Spar- und Investitionsmarkts, das heißt, durch die Schaffung der dafür erforderlichen Voraussetzungen zur Solidarität, damit unsere Investmentfonds und all unsere Kapitalmarktakteure Ersparnisse zirkulieren lassen können, sodass diese in unserer Wirtschaft richtig verteilt werden.

Also versuchen wir, voranzuschreiten. Wir haben bereits damit begonnen. Und ich denke, wir sollten uns nicht mehr als 12 Monate Zeit dafür geben, denn wir machen schon seit zu vielen Jahren Versprechungen. Entweder, es gelingt uns innerhalb von 12 Monaten, ein System mit einheitlicher Aufsicht, gemeinsamen Konkursregeln und steuerlichen Konvergenzbereichen aufzubauen, das relativ vergleichbar ist mit dem System der Bankenaufsicht. Oder, wie einige vorschlagen, wir konzipieren ein dem Wettbewerbsrecht ähnliches System, das flexiblere Widerrufssysteme, aber dennoch eine Union ermöglicht und das in jedem Fall den Verkehr fördert. Ich möchte der Lösung im Detail nicht vorgreifen, aber wir müssen diese Union schaffen, die für den Kapitalverkehr unerlässlich ist.

Darüber hinaus müssen wir die Anwendung von Basel und Solvency in ihrer derzeitigen Form überprüfen. Wir dürfen nicht der einzige Wirtschaftsraum der Welt sein, der diese Prinzipien anwendet. Die USA, welche die Quelle der Finanzkrise von 2008-2010 waren, haben sich dagegen entschieden, sie auf ihre Akteure anzuwenden. Ich bin nicht dafür, sie abzuschaffen und auch nicht dafür, wieder eine Kultur der finanziellen Unverantwortlichkeit zu schaffen. Ich bin jedoch dafür, dass wir wieder eine Risikokultur bei der Verwaltung unserer Ersparnisse einführen. Ohne Risikokultur kann es keine Investitionen in Forschung, Innovation, technologische und innovative Start-Ups und unsere Unternehmen geben. Im Weiteren bin ich dafür, auch an dieser Stelle europäische Produkte und Lösungen zu schaffen, damit unsere Ersparnisse in die Finanzierung unserer Wirtschaft fließen können. Ein echter Binnenmarkt, eine Spar- und Investitionsunion, eine Lockerung der Regeln, die das Risiko vertreiben, und europäische Produkte, die es uns ermöglichen, den Verlust zu verhindern.

Wie Sie sehen, skizziere ich hier ein neues Wachstums- und Wohlstandsmodell, das durch Vereinfachung erreicht werden soll: eine massive Politik der industriellen Dekarbonisierung, eine tiefgreifende Änderung unserer Industrie-, Wettbewerbs- und Handelspolitik, eine echte und noch ambitioniertere Forschungs- und Innovationspolitik und den Wechsel unseres Währungs-, Haushalts- und Finanzparadigmas.

Also, um zum Schluss zu kommen: Warum tun wir das alles? Ich habe eingangs gesagt, dass unser Europa sterben kann. Es kann sterben, wenn es seine Grenzen nicht aufrechterhält. Es weiß nicht auf äußere Sicherheitsrisiken zu reagieren. Es kann sterben, wenn es von anderen abhängig wird. Es kann nicht selbst produzieren, um seinen Wohlstand und Umverteilung zu schaffen. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem Europa an sich sterben kann. Denn wir befinden uns wieder in einer Zeit, die unser Europa schon einmal erlebt hat. Peter Sloterdijk beschreibt dies sehr gut und mit seinem typischen, etwas ironischen Pessimismus in den Vorlesungen, die er gerade am Collège de France hält: Er sagt, dass wir erneut jene Momente erleben, in denen Europa seinen Niedergang fürchtet und an sich selbst zweifelt.

Wieder einmal hat Europa sein Selbstwertgefühl verloren. Wenn man bedenkt, was es alles geleistet hat und was ihm zu verdanken ist, mutet das seltsam an, ist aber nun einmal so. Es würde an dieser Stelle zu lange dauern, zu erklären, dass unser Europa strukturell wiederkehrende Selbstzweifel hat. Wir sind der Kontinent und die Zivilisation, die wahrscheinlich den Zweifel und die Selbsthinterfragung sowie die Beichtkultur erfunden hat, und ich glaube, er kommt in seinen Vorträgen auch darauf zurück. Wir werden auch deshalb von Zweifeln geplagt, weil unsere Demokratie erschüttert wird, wie ich bereits in Bezug auf ihre Regeln erwähnte, und weil unser Bevölkerungsrückgang tiefe Besorgnis auslöst. Das Risiko für unser Europa besteht also gewissermaßen darin, sich an diese Selbstzweifel zu gewöhnen.

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Deshalb ist das, was ich Ihnen heute vorschlagen und gewissermaßen versprechen möchte, zu versuchen, diesen uns einenden europäischen Humanismus trotz allem zu verteidigen. Genau weil wir nicht wie die anderen sind, wollen wir unsere Grenzen schützen und ein starker Kontinent bleiben, der produziert und kreativ ist. Das dürfen wir nie vergessen. Wir sind nicht wie die anderen. Es gibt dieses wunderbare Zitat aus "Brief an einen deutschen Freund" von Albert Camus: "Unser Europa ist ein gemeinsames Abenteuer, das wir trotz Ihnen im Wind der Intelligenz weiterführen". Das ist es, was Europa ausmacht. Es ist ein Abenteuer, das wir trotz all der Zweifler im Wind der Intelligenz weiterführen. Was bedeutet das? Europäisch zu sein bedeutet nicht einfach, in einem Land zwischen der Ostsee und dem Mittelmeer oder vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer zu leben. Es bedeutet, ein bestimmtes Menschenbild zu verteidigen, welches das freie, rationale und aufgeklärte Individuum über alles stellt. Und es bedeutet, dass wir von Paris bis Warschau und von Lissabon bis Odessa eine einzigartige Beziehung zu Freiheit und Gerechtigkeit haben. Wir haben uns stets dazu entschieden, den Menschen im Allgemeinen über alles zu stellen. Und von der Renaissance über die Aufklärung bis hin zur Überwindung der Totalitarismen ist es das, was Europa ausgemacht hat.

Es ist die ständig bekräftigte Entscheidung, die uns von anderen unterscheidet. Das ist nicht eine naive Entscheidung, unser Leben an große industrielle Akteure zu delegieren, weil diese zu stark seien. Dies steht nicht im Einklang mit der Entscheidung für Europa und den europäischen Humanismus. Es ist eine Entscheidung, die es ablehnt, unser Leben an staatliche Kontrollmächte zu delegieren, welche die Freiheit des rationalen Individuums nicht respektieren würden. Es ist vielmehr ein Vertrauen in das freie, vernunftbegabte Individuum. Es ist ein Vertrauen in das Wissen, die Freiheit und die Kultur. Es ist eine ständige Spannung zwischen Tradition und Beständigkeit und Modernität. Europäisch zu sein, bedeutet ein Ungleichgewicht, und das ist es, was wir verteidigen müssen. Dieser Humanismus ist zerbrechlich, doch er unterscheidet uns von anderen. Und ich möchte hier dafür plädieren, dass wir uns jetzt für ihn entscheiden. Wir müssen ihn verteidigen, denn wie ich bereits sagte, ist die liberale Demokratie keine Selbstverständlichkeit. Das sage ich an diesem so wichtigen Tag für die Demokratie, an dem ich auch an unsere portugiesischen Freunde denke, und zwar auf den Tag genau 50 Jahre nach der Nelkenrevolution.

Die Freiheit muss errungen werden. Überall auf unserem Kontinent wurde sie bis zum Beginn dieses Jahrhunderts aus Kämpfen geschmiedet. Wir dürfen nie vergessen, dass sie keine Selbstverständlichkeit ist. Sie verbietet uns, tatenlos zu bleiben. Deshalb müssen wir weiterhin die Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit verteidigen: die Gewaltenteilung, das Recht der Opposition und der Minderheiten, die unabhängige Justiz, die freie Presse, autonome Universitäten und die akademische Freiheit. In zu vielen europäischen Ländern ist die Freiheit aufgegeben worden. Deshalb setze ich mich hier für eine rechtsstaatliche Haushaltskonditionalität für die Auszahlung von EU-Mitteln ein. Diese müssen wir durch Melde- und Sanktionsverfahren im Falle schwerwiegender Verstöße noch weiter stärken. Europa ist kein Tresen, an dem man sich gewissermaßen seine Prinzipien aussuchen kann.

Aus diesem Grund müssen wir auch unsere Kapazitäten stärken, gegen Einmischung und Propaganda vorzugehen, insbesondere angesichts der anstehenden Wahlen. Unsere tschechischen Freunde haben es erlebt, unsere belgischen Freunde haben es angeprangert: Wir erleben heute auf gewissen Fernsehkanälen und in den sozialen Netzwerken das Wiederaufleben eines gewissen unaufrichtigen Umgangs mit Regeln, die für diejenigen aufgestellt wurden, die den demokratischen Anstand respektierten. Wir erleben eine Rückkehr von Propaganda und Fake News, die unsere liberalen Demokratien erschüttern und ein anderes Modell vorantreiben. Wir müssen Falschinformationen bekämpfen, volle Transparenz durchsetzen und solche Inhalte vor allem dann verbieten, wenn sie Wahlen gefährden. Dennoch gibt es allen Grund zum Optimismus. Beispielsweise wenn wir auf Polen blicken, wo manche bis vor noch wenigen Monaten glaubten, die Würfel seien bereits gefallen. Doch das Land verzeichnete dann nicht nur die höchste Wahlbeteiligung seiner Geschichte, sondern wählte eine Partei wieder, die heimatliebend ist und zugleich die liberale Demokratie verteidigt. Deshalb müssen wir diesen Kampf für liberale Demokratie und politische Offenheit in ganz Europa führen und ihn so europäisch wie möglich gestalten. Ich möchte hier nicht weiter ausholen. Bei den Schlussfolgerungen der Konferenz über die Zukunft Europas habe ich mich für die Bürgerbeteiligung, die Bürgerpanels, die Europäische Bürgerinitiative und die europäischen Referenden eingesetzt. Ich denke, dass wir diese Initiativen gemeinsam als Europäerinnen und Europäer entwickeln sollten und dass sie wesentlich für die Stärkung des europäischen Demos sind. Wir sollten auch transnationale Listen bei den Europawahlen zulassen, die schlichtweg eine Gelegenheit sind, eine echte demokratische Debatte in Europa zu fördern. Schauen Sie sich die Wahlen in ihrer jetzigen Form an: Das sind in erster Linie nationale Wahlen. Das ist die Realität. Denn wir haben keine europaweiten Listen. Bislang wurde diese Idee von unseren Partnern nicht einstimmig angenommen, gelinde gesagt. Aber das Wichtigste dabei ist, dass wir keinen Kontinent und keine Gremien haben können, die immer mehr Entscheidungen treffen, während die demokratische Beteiligung auf dem Niveau von 1979 verbleibt. Wir brauchen den Mut, die europäische Demokratie zu stärken, und wir brauchen überarbeitete Regeln. An dieser Stelle gibt es auch ein sehr starkes deutsch-französisches Einvernehmen über den Übergang zur qualifizierten Mehrheit in der Steuer- und Außenpolitik. Das ist eine der wesentlichen Reformen, auch wenn wir noch viel mehr tun müssen. Aber ich möchte Sie heute nicht überfordern.

Die Verteidigung dieses europäischen Humanismus bedeutet vor allem, wie bereits gesagt, dass wir über unsere Institutionen hinaus die uns am Herzen liegende liberale Demokratie verteidigen und stärken müssen. Denn sie ist der Raum, in dem unsere Bürgerinnen und Bürger durch Wissen, Kultur und Wissenschaft zum Leben erwachen. Europäisch zu sein bedeutet zu glauben, dass es wirklich nichts Wichtigeres gibt, als ein freies, vernunftbegabtes und wissendes Individuum zu sein. Und in einer Zeit, in der Skepsis, Verschwörungstheorien, die Infragestellung der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Autorität zunehmen, haben wir Europäerinnen und Europäer die Verantwortung, diese zu verteidigen, sie zu lehren und die freie und offene Wissenschaft zu verteidigen und zu verbreiten. Diesen Kampf werden wir auf internationaler Ebene führen, doch wir müssen auch die dafür erforderlichen Instrumente stärken. Vor sieben Jahren habe ich die Universitätsallianzen vorgeschlagen, von denen dank der Universitätspräsidenten, Studierenden und Professoren mehr als fünfzig gegründet wurden, wofür ich Ihnen danken möchte. Diese Allianzen ermöglichen es, Wissen und Ideen strukturiert zu teilen. Jetzt ist es an der Zeit, zur zweiten Phase überzugehen: die Finanzierung zu konsolidieren und gleichzeitig die Integration dieser Universitäten zu verstärken, um zu vollständig gemeinsamen europäischen Abschlüssen zu gelangen. Europäische Exzellenz hängt auch von Knowhow ab. Deshalb müssen wir das Erasmus-Programm für die Lehrlingsausbildung und die Berufsbildung mit dem Ziel ausbauen, bis 2030 mindestens 15 % der Auszubildenden europäische Mobilitätsmöglichkeiten zu bieten.

Zu teilen bedeutet, Allianzen europäischer Museen und Allianzen europäischer Bibliotheken zu schaffen, um Partnerschaften zu erleichtern, die Digitalisierung zu fördern und die Verbreitung und den Zugang zu Werken und Büchern in Europa zu verbessern. Das Teilen des europäischen Geistes bedeutet auch, gemeinsame Weltvorstellungen und Kulturen zu fördern. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass wir aus ARTE, der europäischen audiovisuellen Referenzplattform, die Plattform aller Europäerinnen und Europäer machen, die künftig noch mehr hochwertige Inhalte in allen Sprachen in ganz Europa anbieten kann. Das auch, um den Reichtum unseres europäischen Kulturerbes zu fördern, das Erlernen der europäischen Sprachen zu unterstützen und unser Modell zum Schutz der Urheberrechte und zur Finanzierung des künstlerischen Schaffens zu verteidigen, wie wir es in den letzten Jahren vermehrt getan haben. Den europäischen Geist mit den jungen Generationen zu teilen, bedeutet auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Kontinent zu erleben, zu reisen und sich auszutauschen. Über Erasmus und Erasmus für die Berufsausbildung hinaus bedeutet dies ganz konkret, wie Enrico Letta in seinem Bericht übrigens sehr gut erörtert hat, ganz Europa mit dem Zug bereisen zu können. Unsere Hauptstädte sind noch nicht gut genug miteinander verbunden. Der Interrail-Pass ist ein Erfolg. Er muss sich nun an ein Europa des Zugverkehrs anlehnen, das ebenso ein Verbindungsprojekt wie ein Kulturprojekt ist – also ein Mobilitätsprojekt für die Studierenden, die Jugend und das Wissen zwischen den Hauptstädten. Ich persönlich wünsche mir, dass es sich auf eine Europäisierung des Kulturpasses stützt, der im Übrigen keine französische Erfindung ist, so patriotisch wir gerne sind. Er ist eine Erfindung des Italiens von Matteo Renzi, die wir nachempfunden haben. Wir haben versucht, ihn zu verbessern und mehrere andere haben es uns gleichgetan. Das ist es, was Europa ausmacht, nämlich sich von erfolgreichen Ideen inspirieren zu lassen. Jetzt müssen wir seine Reichweite noch vergrößern, denn der Kulturpass bietet jungen Menschen und vielen Familien einen großartigen Zugang zur Kultur.

Wie Sie sehen, haben wir erneut viel Ehrgeiz für dieses Europa des Wissens, der Kultur und der Intelligenz bewiesen. Aber in diesem Moment müssen wir es auch verteidigen. Heute sind wir hier versammelt, an dieser Universität und einem Ort, an dem wir uns unter der Schirmherrschaft großer Geister und einer uns wohlvertrauten Höflichkeit austauschen können. Doch niemand kann ignorieren, dass sich unser aller Leben und das unserer Kinder und noch vielmehr unserer Jugendlichen heute in einem anderen Raum abspielt: dem digitalen Raum.

Und diesen Raum haben wir als Europa nicht unter Kontrolle. Und in diesem Raum produzieren wir nicht nur zu wenig Inhalte – das ist eines der Ziele, die ich hier anbringe und für die ich mich einsetze –, sondern wir bestimmen nicht einmal mehr die Regeln. Ein tiefgreifender, anthropologischer und gesellschaftlicher Wandel findet statt. Wenn heute Kinder stundenlang vor Bildschirmen sitzen, wenn Jugendliche sich über diese Bildschirme und deren Inhalte der Kultur, dem Intimleben und dem Gefühlsleben öffnen, wenn die demokratische Debatte sich in diesem digitalen Raum strukturiert, in dem wir uns bewegen und der im Grunde der Raum ist, den wir in unserer heutigen Lebenszeit am meisten bewohnen – sind wir Europäerinnen und Europäer dann ernsthaft bereit, ihn anderen zu überlassen? Nein.

Ganz bewusst sage ich Ihnen, dass ein kultureller und zivilisatorischer Kampf stattfindet. Denn dort spielt sich unsere Demokratie ab, dort wird die öffentliche Meinung geformt. Eine Demokratie mit freien Wahlen ist großartig. Wenn diese Wahlen jedoch beeinflusst und die Meinungen der Menschen verzerrt werden, wenn die Wahlentscheidungen von den Positionen dieses oder jenes Lagers beeinflusst werden, was für eine Demokratie haben wir dann? Daher möchte ich mit Nachdruck darauf hinweisen, dass es sich hier weder um eine fachspezifische Angelegenheit noch um eine Frage der öffentlichen Politik handelt. Die Fähigkeit, eine öffentliche, demokratische, digitale Ordnung zu schaffen, ist für uns eine Frage des Überlebens.

Genau für die Verteidigung unseres Humanismus ist das eine Frage des Überlebens. Denn heute gibt es im Grunde genommen zwei Modelle. Einerseits das angelsächsische Modell, das de facto auf der Entscheidung basiert, den digitalen Raum an den privaten Sektor zu delegieren; es wird Weiterentwicklung geben, doch wir vertrauen ihr. Große Unternehmen verfügen über soziale Netzwerke und Plattformen, die wiederum Algorithmen verwenden, durch die zwar alles recht kompliziert erscheint, was aber uns Verbrauchern gefällt, da es effizient zu sein scheint. Aber das ist ein Modell, bei dem die Bürger den Verbrauchern gegenüber eine untergeordnete Rolle spielen. Andererseits das Modell der Kontrolle, bei dem der Staat diese Unordnung und Normfreiheit kontrolliert. Dieses Modell wendet China an, und andere autoritäre Mächte nähern sich diesem Modell ebenfalls an.

Europa muss das humanistische Modell entwickeln. Dabei handelt es sich um ein Modell, das eine demokratische und somit gerechte sowie transparente Ordnung schafft, in der wir Regeln ausdiskutieren und zu ihnen abstimmen. Deshalb möchte ich mich für ein Europa der digitalen Volljährigkeit mit 15 Jahren einsetzen. Vor dem 15. Lebensjahr müssen die Erziehungsberechtigten den Zugang ihrer Kinder zum digitalen Raum kontrollieren, weil sie sonst allen möglichen Risiken und verzerrten Denkweisen ausgesetzt sind, die jede Art von Hass rechtfertigen. Dazu sind wir verpflichtet. Das ist etwas, das wir für unsere Kinder tun und was der gesunde Menschenverstand gebietet. Würden Sie Ihre Kinder im Alter von fünf, zehn oder zwölf Jahren allein in den Dschungel schicken? Niemand, der bei rechtem Verstand ist, würde das tun. Wir ziehen sie im Schutz der Familie groß, wir begleiten sie bis zur Schule und lassen sie bei vertrauenswürdigen Menschen verweilen, die sie erziehen werden. Wann immer möglich organisieren wir für sie Aktivitäten, damit sie dazulernen und unabhängig werden können. Und dennoch – heutzutage öffnen wir für mehrere Stunden am Tag das Tor zum Dschungel. Dort könnten sie Opfer von Cybermobbing oder von pornografischen Inhalten sowie von Pädokriminalität werden. So ist die Beschaffenheit dieses Raums, weil er nicht reguliert und auch nicht moderiert wird. Möchten Sie wissen, wie viele französischsprachige Moderatoren diese Plattformen und Netzwerke haben? Manche nicht einmal ein Dutzend. Wir müssen also die Kontrolle über das Leben unserer Kinder und Jugendlichen als Europäerinnen und Europäer zurückgewinnen, die digitale Volljährigkeit mit 15 Jahren – nicht früher – durchsetzen und die Plattformen dazu verpflichten, bestimmte Websites zu moderieren oder zu schließen.

Und schließlich müssen wir uns gemeinsam darum bemühen, die Zivilisiertheit im Cyberspace wiederherzustellen. So wie wir sonst rassistische Kommentare, antisemitische Äußerungen und Hassreden verbieten, müssen wir sie auch im digitalen Bereich entschlossen verbieten, wo die vermeintliche Anonymität es den Menschen erlaubt, ohne Hemmungen Hass zu verbreiten. Es ist ein Kampf für Zivilisation und Demokratie, den wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam führen müssen, und der ein wesentlicher Bestandteil unseres Kampfes im Allgemeinen ist.

Unser europäischer Humanismus ist natürlich auch ein Humanismus der Würde und der Gerechtigkeit. Wir lieben die Freiheit und das Wissen, und wir haben uns zudem der Gerechtigkeit und Gleichheit verschrieben. Das unterscheidet uns von anderen Kontinenten.

Die Gleichstellung von Frauen und Männern steht im Mittelpunkt dieses Projekts. Frankreich und Europa haben wir viel erreicht in Bezug auf die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben der Eltern und der pflegenden Angehörigen, Transparenz von Gehältern, Gleichstellung und mehr. Heute möchte ich, dass wir noch weiter gehen und das Recht auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufnehmen, wie wir es bereits in unserer Verfassung getan haben. Denn die Gleichstellung von Frauen und Männern ist das Herzstück dieses humanistischen Projekts, sie ist das Herzstück genau dessen, was Europa ausmacht.

Dieses Europa basiert auf einem sozialen Zusammenhalt, also auf dem Willen, gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzubauen. Getreu dem Vermächtnis von Jacques Delors und seinem europäischen Hilfsprogramm zur Unterstützung der Bedürftigsten schlage ich vor, ein europäisches Solidaritätsprogramm zu schaffen. Auf der Grundlage des Europäischen Sozialfonds würde es Mittel für Initiativen der EU-Mitgliedstaaten bereitstellen, die darauf abzielen, den Bedürftigsten zu helfen, und so dazu beitragen, die sich aktuell vollziehenden Übergänge, sozial zu unterstützen.

Europa muss sich also auch mit neuen Instrumenten ausstatten, um die Menschen und Gebiete bei diesem sozialen Wandel zu begleiten; das ist unerlässlich. Schützen und begleiten wir also die Europäerinnen und Europäer mit dieser Politik der Gerechtigkeit und einer Garantie für ein Europa, in dem sie alle Rechte – Freizügigkeit, Zugänglichkeit, Kampf gegen Diskriminierung – ausüben und Fortschritte machen können.

Und wenn wir gerade beim Thema Gerechtigkeit sind: Ich werde an dieser Stelle nicht die Debatte über die Einkommenssteuer anstoßen, wiewohl sie in Anbetracht des angehäuften Reichtums der Globalisierung eine gute Debatte ist. Meine Überzeugung ist jedoch, dass wir diese Debatte nicht auf europäischer Ebene, sondern auf internationaler Ebene führen müssen; so, wie bei der Debatte zur Mindeststeuer, die Frankreich erfolgreich vorangetrieben hat. Aus diesem Grund habe ich mit Präsident Lula innerhalb der G20 dieses Bündnis zur Besteuerung sehr hoher Einkommen geschlossen. Diesen existenziellen Kampf müssen wir innerhalb der G20, und auch innerhalb der weiteren OECD, führen.

Im Grunde besteht dieser europäische Humanismus, diese bestimmte Idee von Europa, von der George Steiner sprach, aus sehr vernünftigen Dingen: der Idee der Freiheit des Rechtsstaates, dem Willen zur Wahrung von Wissen, der Kultur, der Beziehung zur Gleichheit, die ich erwähnte. Aber das Europa der Cafés, das Europa unserer Hauptstädte, die gewissermaßen Palimpseste sind, bedeutet auch, dass es eine ständige Spannung zwischen dem Erbe, das wir weitergeben wollen, und der herausfordernden Modernität gibt. Deshalb befindet sich unser Europa in diesem ständigen Spannungsfeld. Doch es hat auch ein Mitspracherecht.

Europa muss dieses Recht ausüben, indem es weiterhin unsere Kultur und deren Vermittlung verteidigt, wie ich es bereits erwähnt habe. Es verteidigt die Einzigartigkeit dieser Kultur sowie den Dialog zwischen seinen Universitäten, seinen Orten der Geselligkeit, seinen Cafés. Es muss sein Mitspracherecht ausüben, indem es dieses Stückchen Erde ist, das sich für den Schutz seiner Landschaften entscheidet. Und ich glaube, dass unser Ehrgeiz, den wir für unsere Wälder, Meere und Ozeane haben, damit beginnt, sie auf diese Weise zu betrachten. Es handelt sich nicht um eine willkürliche modernistische Modeerscheinung, die nichts mit der Realität zu tun hat oder eine Karikatur, die mir manchmal untergekommen ist. Ganz und gar nicht! Der Schutz unserer Wälder, der Schutz unserer Biodiversität, der Schutz unserer Meere und Ozeane zeigt nur, dass wir europäischen Humanisten bis drei zählen können – bis zur Generation vor uns, bis zu unserer Generation und bis zur Generation nach uns – und dass unser Europa ein Schatz ist, den wir geerbt haben und den wir weitergeben werden. Und er zeigt, dass all das, was ich gerade gesagt habe, nicht durch die Zerstörung erschöpflicher natürlicher Ressourcen geschehen kann, weshalb das Streben zum Erhalt von Biodiversität, das Streben zum Schutz unserer Wälder und Ozeane, und all das, was wir im Rahmen der für unser Europa zu verfolgenden Politik ausarbeiten müssen, eine in erster Linie humanistische Bestrebung ist.

Ich sage das auch, weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die glauben, dass die Rechte der Natur über denen der Menschen stehen. Für mich ist es eine Frage des europäischen Humanismus, die Natur zu schützen, denn sie ist Teil unseres Gleichgewichts, sie ist das, was uns überliefert wurde, und sie ist eine Möglichkeit, den Humanismus für uns und unsere Kinder zu fördern.

*

Meine Damen und Herren, ich bin mir bewusst, dass ich zu lange gesprochen habe, aber es gäbe noch so viel mehr zu sagen. Und ich weiß sehr wohl, dass mir am Ende dieser Ausführungen einige vorwerfen werden, ich hätte nicht genug über den afrikanischen Kontinent, unsere Nachbarschaft, die Reform und Modernisierung der Verträge und all die anderen Dinge, die ich nicht angesprochen habe, gesagt.

Europa ist ein Gespräch, das nie endet. Und es ist zudem ein Projekt ohne Grenzen. Aus philosophischer und zivilisatorischer Sicht stimmt das. Wir dürfen nie vergessen, dass die Entführung von Europa durch einen griechischen Gott auf angeblich asiatischem Boden stattfand. Es besteht eine Form der Zweideutigkeit und deshalb ist das Gespräch ohne Ende. Genau hier, an der Sorbonne, fragte sich einst Ernest Renan, was eine Nation ist. Und für Europa ist nun die Zeit gekommen, sich zu fragen, was es werden will.

In meinen Augen bedeutet, von Europa zu sprechen, immer auch von Frankreich zu sprechen. Doch wie Sie sicher verstanden haben, befinden wir uns an einem wichtigen Scheideweg. Unser Europa kann sterben, wie ich Ihnen bereits sagte, und es kann durch eine Art List der Geschichte sterben. Es hat in den letzten Jahrzehnten Großartiges verbracht. Wenn Sie so wollen, haben die europäischen Ideen den Gramscianischen Kampf gewonnen. Denn die nationalistischen Bewegungen in ganz Europa wagen nicht mehr zu sagen, dass sie die Eurozone und die EU verlassen werden. Aber sie haben uns alle an einen "Ja, aber..."-Diskurs gewöhnt, was bedeutet: "Ich werde alles übernehmen, was Europa erreicht hat, aber ich werde es vereinfachen. Aber ich werde es tun, während ich die Regeln nicht respektiere. Aber ich werde es tun, während ich seine Grundlagen mit Füßen trete". Im Grunde genommen schlagen sie nicht mehr vor, das Wohngebäude zu verlassen oder abzureißen. Sie schlagen lediglich vor, sich nicht an die Gemeinschaftsregeln zu halten, nicht zu investieren und die Miete nicht zu zahlen. Und sie behaupten, dass das funktionieren wird.

Und das Risiko besteht darin, dass alle anderen zurückhaltend werden und sagen: "Die Nationalisten, die Anti-Europäer sind überall in unseren Ländern sehr stark". Das ist normal, denn es gibt Angst und Wut in den Schockmomenten, die wir erleben, gerade weil unsere Bürgerinnen und Bürger überall in Europa spüren, dass es sterben oder verschwinden kann.

Die Antwort liegt jedoch nicht in der Zurückhaltung, sondern in der Kühnheit. Die Antwort liegt nicht in der Feststellung, sich zu sagen: "Sie steigen überall auf", und sich zu sagen: "Wir haben die Wahl". In diesem Jahr werden die Briten ihre Zukunft wählen, die Amerikaner werden ihre Zukunft wählen. Und am 9. Juni werden es auch die Europäer tun.

Aber die Wahl besteht nicht darin, so zu handeln, wie man es immer getan hat, und nicht nur darin, sich anzupassen. Es geht darum, die Verantwortung für neue Paradigmen zu übernehmen. Mir ist sehr bewusst, dass es Voltaire gemäß schwierig ist, optimistisch zu sein; für manche ist es vielleicht sogar eine Frage der Glaubwürdigkeit. Aber die Wahl ist eine Form des Optimismus, des Willens.

Ja, ich glaube, dass wir die Kontrolle über unser Leben und unser Schicksal durch die Stärke, den Wohlstand und den Humanismus unseres Europas zurückgewinnen können. Und schließlich, wenn die Zeiten unsicher sind – um es mit den Worten von Hannah Arendt zu sagen und ihr Werk „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ zu zitieren: Der beste Weg, die Zukunft zu kennen, wenn die Ereignisse wiederkehren und das Unerwartete eintritt, der beste Weg, die Zukunft zu kennen, besteht im Geben und Halten von Versprechen.

Ich schlage also vor, dass wir uns mit unserem klaren Verstand einige große Versprechungen für das Europa des kommenden Jahrzehnts machen und leidenschaftlich dafür kämpfen, sie einzuhalten. Dann haben wir vielleicht eine Chance, die Zukunft zu kennen. Auf jeden Fall werden wir dafür gekämpft haben, unsere eigene Zukunft zu wählen.

Es lebe Europa! Es lebe die Republik und es lebe Frankreich!