Der Präsident der Republik, Emmanuel Macron, gab am Donnerstag, 12. November 2020, der Zeitschrift Le Grand Continent ein Interview.
Verfolgen Sie das Interview mit dem Präsidenten der Republik Emmanuel Macron:
12 November 2020 - Es gilt das gesprochene Wort
Interview des Französischen Präsidenten Emmanuel Macron in der Zeitschrift Le Grand Continent.
Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende entgegen. Wie würden Sie Ihren aktuellen Kurs beschreiben, zwischen Bewältigung dringender Probleme und einer langfristigen Vision?
Sie sagen es, das Jahr 2020 war von Krisen geprägt. Da ist zum einen natürlich die Covid 19-Epidemie und zum anderen der Terrorismus, der in den letzten Monaten erneut sehr stark in Europa auftritt, aber auch in Afrika. Dabei denke ich insbesondere an den sogenannten „islamistischen“ Terrorismus, der aber in Wahrheit im Namen einer Ideologie ausgeübt wird, die eine Religion entstellt.
Diese beiden Krisen kommen zu allen Herausforderungen dazu, die uns schon zuvor beschäftigten und die ich als „strukturell“ bezeichnen würde: Klimawandel, Biodiversität, Kampf gegen Ungleichheiten – also der unerträgliche Zustand von Ungleichheit zwischen unseren und innerhalb unserer Gesellschaften – sowie die große digitale Transformation. Wir befinden uns an einem Moment, in dem kurzfristige Krisen wie die Epidemie und der Terrorismus in einer in der Menschheitsgeschichte selten dagewesenen Weise mit tiefgreifenden und strukturellen Umwälzungen zusammentreffen, die sich auf die internationalen Beziehungen auswirken und sogar anthropologische Konsequenzen haben: Ich denke hier an den Klimawandel, aber auch an technologische Veränderungen, die unsere Vorstellungswelten umformen und das Verhältnis zwischen dem Privaten, dem Öffentlichen und unseren Weltanschauungen erschüttern.
Angesichts dieser Situation – und Sie sprechen zu Recht von einem „Kurs“ – glaube ich fest an eine Leitidee: Wir müssen die Formen internationaler Zusammenarbeit neu erfinden. Eine der Eigenschaften all dieser Krisen liegt darin, dass die Menschen sie zwar an verschiedenen Orten unterschiedlich erleben, wir uns jedoch alle zugleich mit großen Umwälzungen und punktuellen Krisen konfrontiert sehen. Um diese bestmöglich zu lösen, müssen wir zusammenarbeiten. Wir werden diese Epidemie und dieses Virus nicht besiegen, wenn wir nicht zusammenarbeiten. Selbst wenn einige einen Impfstoff entwickeln, würde das Virus in gewissen Gebieten immer wieder zurückkehren, wenn der Schutz nicht über den ganzen Planeten verteilt wird. Vom Kampf gegen den Terrorismus sind wir auch alle betroffen: Man darf nicht vergessen, dass 80 % der Opfer dieses islamistischen Terrorismus aus der muslimischen Welt stammen, wie wir es in den letzten Tagen wieder in Mosambik gesehen haben. Angesichts all dieser Krisen bilden wir eine Schicksalsgemeinschaft. Das erste Ziel für unseren Kurs auf internationaler Ebene sehe ich darin, nach Wegen einer geeigneten Zusammenarbeit zu suchen, wie wir es im Falle des Virus mit dem ACT-Accelerator Mechanismus getan und beim Terrorismus durch den Aufbau neuer Koalitionen versucht haben, und wie wir es angesichts der besagten großen Aufgaben dauerhaft umsetzen.
Daneben gehört es zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch zu diesem Kurs – und das eine geht nicht ohne das andere – ein politisches Europa zu stärken und zu strukturieren. Warum? Wenn wir uns wünschen, dass Zusammenarbeit entsteht, brauchen wir ausgewogene Pole, die dieser Kooperation in Form eines neuen Multilateralismus Struktur verleihen, das heißt als Dialog zwischen den verschiedenen Mächten, um gemeinsam zu entscheiden. Das setzt das Eingeständnis voraus, dass die Gerüste der multilateralen Zusammenarbeit derzeit geschwächt sind, weil sie blockiert sind: Ich muss feststellen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zurzeit keine brauchbaren Entscheidungen mehr produziert; wir sind alle mitverantwortlich dafür, dass manche Institutionen wie beispielsweise die WHO zu Geiseln der Multilateralismus-Krisen werden.
Wir brauchen neu erfundene, geeignete Formen der Kooperation, projekt- und akteursbezogene Koalitionen und zudem eine Modernisierung der Strukturen sowie ein neues Gleichgewicht der Beziehungen. Um dies zu erreichen, müssen wir auch die Modalitäten der Beziehungen überdenken: Für mich besteht das zweite Ziel unseres Kurses in einem starken und politischen Europa. Warum? Weil ich denke, dass Europa die Stimme Frankreichs nicht schwächt: Frankreich hat seine Konzeption, seine Geschichte, seine Vision der internationalen Angelegenheiten, aber es bringt ein sehr viel angemesseneres und stärkeres Handeln auf den Weg, wenn es auf europäischem Wege agiert. Ich denke sogar, dass dies die einzige Möglichkeit ist, um unseren Werten und unserer gemeinsamen Stimme Gehör zu verschaffen, um die Ausprägung eines chinesisch-amerikanischen Duopols, den Zerfall Europas und die Rückkehr sich feindlich gegenüber stehender Regionalmächte zu vermeiden. So ist es uns gelungen, das Übereinkommen von Paris zum Klimaschutz zu bewahren, indem nach der Entscheidung von Präsident Trump tatsächlich die Europäische Union die Agenda aufgestellt hat, um China in der Folge im Boot zu behalten. So haben wir im Kampf gegen den Terrorismus im Internet mit dem Aufruf von Christchurch agiert – in Kooperation mit den Neuseeländern, aber es war im Kern eine europäische Aktion, die wir hier in Paris vor anderthalb Jahren gestartet haben.
Daher denke ich, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt vor allem den europäischen Faden und die strategische Autonomie nicht verspielen dürfen, diese Stärke, die Europa für sich selbst haben kann. Wenn ich versuche, über das Tagesgeschehen hinauszublicken, würde ich daher vor allem zwei Schwerpunkte einfordern: eine Rückbesinnung auf Wege einer zweckdienlichen internationalen Zusammenarbeit, die Kriege verhindert, uns aber gestattet, auf unsere heutigen Herausforderungen zu reagieren; den Aufbau eines deutlich stärkeren Europas, das seine Stimme, seine Stärke und seine Prinzipien in diesem neu begründeten Rahmen zur Geltung bringen kann.
Sie sprechen von einem Kurs und schauen auf die Zukunft, aber man könnte diesen Moment des Umbruchs auch im Rückblick auf die Vergangenheit verstehen und sich fragen, welche Epoche im Jahr 2020 endet. Ist es eine Epoche, die 1989 begonnen hat oder 1945?
Das ist sehr schwer zu sagen, da wir nicht wissen, ob wir uns an einem Punkt befinden, der das Nachdenken über diese Zeitspanne gestattet. Ich weiß nicht, ob es noch dunkel genug ist für die Eule der Minerva, um sich umzudrehen und das Vergehende zu betrachten und zu verstehen. Aber ich denke, dass beide Momente, die Sie nennen, Zäsuren darstellen, eine weitere ist zweifellos 1968.
Wir sehen, dass sich der multilaterale Rahmen von 1945 in der Krise befindet, und zwar in einer Effizienzkrise, aber schwerer wiegt meines Erachtens die Krise der universellen Geltung der von diesen Strukturen ausgedrückten Werte. Und das stellt für mich – wie wir es vorhin in der Konferenz des Pariser Friedensforums erwähnt haben – eine der schwerwiegendsten Erfahrungen der jüngsten Zeit dar. Elemente wie die Menschenwürde, die unantastbar waren und denen sich alle Völker, alle bei den Vereinten Nationen vertretenen Staaten grundsätzlich anschlossen, werden nunmehr in Frage gestellt und relativiert. Gegenwärtig entsteht ein Relativismus, der wirklich einen Bruch darstellt und für das Spiel von Mächten steht, die sich mit dem auf den Menschenrechten basierenden Rahmen der Vereinten Nationen schwertun. Wir beobachten ganz offensichtlich ein chinesisches und ein russisches Spiel mit diesem Thema, in dem ein Werte- und Prinzipienrelativismus propagiert und außerdem versucht wird, diese Werte zu rekulturalisieren und sie in einem Dialog – oder Konflikt – der Kulturen auszuhandeln, indem sie beispielsweise religiösen Maßstäben gegenübergestellt werden. Das alles ist ein Instrument, um die Universalität dieser Werte aufzubrechen. Wenn wir es zuließen, dass diese Werte, also die Menschen- und Bürgerrechte und somit der auf der Würde des Menschen sowie des freien und vernunftgeleiteten Individuums fußende Universalismus, in Frage gestellt würden, wäre das sehr bedenklich. Und zwar, weil die Wertmaßstäbe nicht mehr dieselben sind, auf deren Basis unsere Globalisierung verankert wurde: Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben. Darin sehe ich also einen ersten Bruch. Er ist noch sehr neu; er setzt sich fest; er ist das Ergebnis freimütig eingestandener ideologischer Entscheidungen von Mächten, die auf diesem Umweg eine Möglichkeit sehen, sich Geltung zu verschaffen, aber auch eine Form der Ermüdung, des Erschlaffens. Aus lauter Gewohnheit denkt man, dass etwas, das zu einer Verbindung von unentwegt wiederholten Wörtern wurde, nicht mehr in Gefahr ist. Das ist der erste Bruch, und er ist sehr beunruhigend.
Es besteht ein zweiter Bruch im Zusammenspiel der Nationen, der meines Erachtens in der Krise der westlichen Gesellschaften nach 1968 und 1989 liegt. Sie können, übrigens überall in Europa, den Aufstieg eines Neokonservatismus beobachten, der auf einer Infragestellung der Werte von 1968 basiert – die Neokonservativen selbst nennen dieses Jahr als Referenzpunkt. Im Grunde liegt darin eine Infragestellung der Werte einer gereiften Demokratie mit ihrer Anerkennung von Minderheiten als einer Befreiungsbewegung der Völker und Gesellschaften, die sich nunmehr mit einer Rückkehr des Mehrheitsprinzips und in gewisser Weise einer Form von Wahrheit der Völker konfrontiert sehen. Das kehrt allenthalben in unsere Gesellschaften zurück. Darin zeigt sich ein deutlicher Bruch, der nicht unbeachtet bleiben darf, da er zu neuer Zersplitterung führt.
Und ich denke, dass wir uns auch in Bezug auf die Zeit nach 1989 an einem Wendepunkt befinden. Die Generationen, die nach 1989 geboren wurden, haben die große Auseinandersetzung, die den intellektuellen Diskurs des Westens und unsere Beziehungen prägten, nicht kennengelernt: den Antitotalitarismus. Vielfach haben sie sich in ihrer Sozialisation und auf ihrem Weg ins akademische oder politische Leben auf eine Fiktion vom „Ende der Geschichte“ und eine vermeintliche Selbstverständlichkeit der fortschreitenden Ausbreitung der Demokratie, der individuellen Freiheiten etc. gestützt. Wie wir sehen, ist es damit vorbei. Autoritäre Regionalmächte kommen ebenso erneut zum Vorschein wie theokratische Regime. Die Ironie der Geschichte zeigt sich im Übrigen im Moment des Arabischen Frühlings, in Form einer Entwicklung, die in der genannten Lesart als Element der Befreiung angesehen wird und die zugleich für die Rückkehr des Gedankenguts bestimmter Völker und des Religiösen ins Politische steht. Es handelt sich in mehreren dieser Länder um eine bemerkenswerte Beschleunigung der Rückkehr des Religiösen auf die politische Bühne.
All diese Elemente führen zu sehr tiefgreifenden Brüchen in unserem Leben und im Leben unserer Gesellschaften sowie mit Blick auf den Geist, der sich zum Zeitpunkt dieser Zäsuren ausgeprägt hat. Genau aus diesem Grund möchte ich etwas in Gang setzen, das man als „Paris-Konsens“ bezeichnen könnte, das jedoch ein Allgemeinkonsens sein soll, den wir heute angestoßen haben, und der über die für den politischen und intellektuellen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte sinnstiftenden großen Momente hinausgeht, um die konkrete Umsetzung des sogenannten Washington-Konsenses zu hinterfragen – also die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaften unter anderem durch das Paradigma offener Volkswirtschaften konstituiert haben, um es mit dem Begriff der Nachkriegszeit in Europa zu sagen: in Form einer sozialen Marktwirtschaft, die im Übrigen immer unsozialer und immer offener wurde, und die sich im Kern in Folge dieses Konsenses einem Dogma mit neuen Wahrheiten verschrieben hat: Senkung der Staatsquote, Privatisierung, Finanzialisierung unserer Volkswirtschaften, mit einer in sich recht geschlossenen Logik der Gewinnerzielung. Diese Ära hat durchaus positive Ergebnisse hervorgebracht, und es wäre zu einfach, sie rückblickend zu verurteilen. Sie hat ermöglicht, Hunderte Millionen von Bewohnern unseres Planeten aus der Armut zu befreien, durch die Öffnung unserer Volkswirtschaften und die Theorie des komparativen Kostenvorteils, von dem zahlreiche arme Länder profitieren konnten. Doch der heutige Blick auf diese Zeit ist ein anderer, was in Bezug auf die von mir erwähnten großen Umwälzungen einen tiefgreifenden Bruch darstellt.
Erstens bietet sie keinen Rahmen, um die großen Veränderungen der Welt zu analysieren und zu verinnerlichen, insbesondere den Klimawandel, der im Washington-Konsens ein externer Effekt bleibt. Nun befinden wir uns jedoch an einem Punkt derartiger Dringlichkeit, dass wir uns nicht mehr erlauben können, eine der vorrangigsten Fragen der Gegenwart – zweifellos die wichtigste Frage für die kommende Generation – einfach nur als negativen externen Effekt zu betrachten. Wir müssen sie wieder in den Markt integrieren. Seit dem Übereinkommen von Paris geschieht dies beispielsweise in Form des CO2-Preises, der im Rahmen des Washington-Konsenses nicht begreifbar ist, da er voraussetzt, mehr als nur den Profit einzubeziehen.
Der zweite Punkt betrifft die Ungleichheiten. Die Funktionsweise der gegenwärtigen finanzialisierten Marktwirtschaft hat Innovationen und für einige Länder einen Weg aus der Armut ermöglicht, doch sie hat die Ungleichheiten in unseren Gesellschaften verstärkt. Denn sie hat zu massiven Standortverlagerungen geführt und einen Teil unserer Bevölkerung auf ein Gefühl der Nutzlosigkeit reduziert und so zu wirtschaftlichen, sozialen aber auch tiefgreifenden psychologischen Tragödien geführt: Insbesondere unsere Mittelschichten sowie ein Teil der Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen wurden zur Manövriermasse dieser Globalisierung und das ist untragbar. Es ist untragbar und wir haben es ohne Zweifel unterschätzt. Unsere Demokratien halten sich durch eine Art Auftriebskraft über Wasser, für die zugleich das politische Prinzip der Demokratie und ihrer Machtwechsel, individuelle Freiheiten, soziale Marktwirtschaft und Aufstiegschancen für die Mittelschichten nötig sind. Diese Elemente stellten die soziologische Basis unserer politischen Systeme dar: So kennen wir es seit dem 18. Jahrhundert. Ab dem Zeitpunkt, an dem die Mittelschichten für sich selbst keine Fortschritte mehr erkennen und Jahr für Jahr den Abstieg erleben, wachsen die Zweifel an der Demokratie. Genau das beobachten wir allenthalben, von den USA eines Donald Trump über die Warnsignale bei Wahlen in Frankreich und in vielen europäischen Ländern bis hin zum Brexit breitet sich dieser Zweifel aus, der im Kern Folgendes ausdrückt: „Da es bei mir nicht mehr vorangeht, muss ich um weiterzukommen wohl entweder die Bedeutung der Demokratie reduzieren und eine gewisse Form von autoritärer Herrschaft akzeptieren oder zu Grenzschließungen bereit sein, da die aktuellen Mechanismen der Welt nicht mehr funktionieren. “
Aus diesem Grund glaube ich sehr fest daran, dass wir an einem Wendepunkt angelangt sind, einem sehr tiefgreifenden Wendepunkt, der über die politischen Aspekte hinaus auch einen Wendepunkt des zeitgenössischen Kapitalismus markiert. Zumal es sich um einen Finanzkapitalismus handelt, der sich übermäßig konzentriert hat und die Ungleichheiten in unseren Gesellschaften sowie auf internationaler Ebene nicht mehr abfedern kann. Und die einzige Antwort darauf liegt in einer Neuausrichtung. Zunächst einmal kann nicht ein Land allein diese Antwort durchsetzen. Ich habe im Übrigen eine Politik gemacht, die ganz und gar nicht in diese Richtung weist und dazu stehe ich ausdrücklich: So wie der Sozialismus in einem einzigen Land nicht funktioniert hat, ist es ineffizient, als einzelnes Land gegen diese Funktionsweise des Kapitalismus anzukämpfen. Man antwortet darauf nicht mit Steuerpolitik, sondern indem man Lebensverläufe anders konstruiert: seitens des Staates durch Bildung und Gesundheit, aber zusätzlich durch eine veränderte Funktionsweise der Finanz- und Wirtschaftsströme, das heißt durch Einbeziehung der Klima- und Inklusionsziele sowie von Stabilitätselementen im Zentrum des Modells. So sehe ich die Dinge.
Wir befinden uns in Bezug auf verschiedene Themen, die in Schlüsselmomenten als sicher erschienen, an einem politischen Wendepunkt. Zugleich befinden wir uns an einem Wendepunkt des kapitalistischen Systems, das sowohl Fragen der Ungleichheit als auch des Klimawandels gedanklich einbeziehen muss. Dazu kommt eine neue Tatsache, die derzeit jedoch die Kehrseite ihrer ursprünglichen Entwicklung zeigt, nämlich die sozialen Netzwerke und das Internet. Diese fantastische Erfindung, die zunächst dazu diente, Wissen auszutauschen und innerhalb der akademischen Welt in Umlauf zu bringen, ist zu einem außerordentlichen Instrument der Informationsverbreitung geworden, aber auch zu zwei gefährlichen Dingen: erstens zu einem Instrument der viralen Verbreitung von Emotionen jeder Art, was dazu führt, dass jeder Einzelne sich ohne Rekontextualisierung auf Gedeih und Verderb in der Welt und den Emotionen des Anderen wiederfindet; zweitens zu einem Element der Enthierarchisierung aller Äußerungen – und somit zur Infragestellung jeder Form von Autorität im allgemeinen Sinne, politisch, akademisch oder wissenschaftlich, die ein strukturiertes Zusammenleben in der Demokratie und der Gesellschaft ermöglicht –, ganz einfach weil die Äußerungen verfügbar sind, weil jemand etwas gesagt hat, und weil dem derselbe Wert zugesprochen wird, egal aus welcher Position derjenige sich äußert. Diese Problematik haben wir noch nicht ausreichend einbezogen. Wir haben keine öffentliche Ordnung dieses Raums definiert. Dieser Raum hat heute einen übermäßigen Einfluss auf unsere Entscheidungen und verändert gleichzeitig unser politisches Leben. Aus anthropologischer Sicht bringt er unsere Demokratien und unser eigenes Leben ins Wanken.
Der letzte Wendepunkt besteht im demographischen Wandel, der häufig vergessen wird. Die Gegenwart wird von den großen klimatischen, technologischen, politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Veränderungen strukturiert, und dazu kommt der demographische Aspekt. Die Bevölkerungszahl nimmt mit unfassbarer Geschwindigkeit zu. Auch wenn ich diese nicht vertrete, werden malthusianische Theorien zurückkehren, da wir nicht in einer Welt leben können, in der über Knappheit der Ressourcen und die Endlichkeit der menschlichen Spezies nachgedacht werden muss und zugleich die Bevölkerungszunahme als exogenes Element angesehen wird. Derzeit wächst die Weltbevölkerung alle fünf Jahre um 400 bis 500 Millionen Menschen. Vor allem aber ist dieses Wachstum sehr ungleich verteilt: Wenn wir über denselben Zeitraum den europäischen und den afrikanischen Kontinent betrachten, ließe sich sagen, dass jeweils für ein in Europa im demographischen Sinne verschwindendes Land in Afrika ein neues entsteht. Wir beobachten, wie sich gewissermaßen die Dynamik der Geschichte beschleunigt. In Europa erleben wir, dass die Bevölkerung in beunruhigender Weise schrumpft – in Frankreich übrigens weniger als anderswo – und dass wir Länder haben, in denen sehr beunruhigende Abwanderungsbewegungen stattfinden, etwa in Osteuropa. Und in Afrika nimmt die Bevölkerungszahl stark zu. Das alles führt zu einer neuen Betrachtungsweise der Welt, der wirtschaftlichen Kapazitäten, der Zukunftsvorstellungen, und bringt natürlich auch die transnationalen Beziehungen durcheinander.
Ich denke, es hat in unserer Geschichte keine Periode gegeben, in der so viele Elemente des Umbruchs zusammentrafen.
Mit welchem Instrumentarium lässt sich ein neuer Multilateralismus aufbauen, der diesen Umwälzungen Rechnung trägt?
Zunächst gilt es, Ideen zu entwickeln, wir müssen den Umbruch durchdenken und benennen. Heute gehen die Ideologien auseinander. Als ich vor drei Jahren über europäische Souveränität und strategische Autonomie gesprochen habe, hat man mich für verrückt erklärt und diese Ideen als eine französische fixe Idee abgetan. Wir haben es geschafft, die Dinge in Bewegung zu bringen. Diese Ideen haben sich in Europa durchgesetzt. Wir haben das zuvor undenkbar scheinende Europa der Verteidigung auf die Beine gestellt. Wir machen jetzt Fortschritte im Bereich der technologischen und strategischen Autonomie, während es zu Anfang für Verwunderung gesorgt hat, als ich mit Bezug auf die 5G-Technologie von Souveränität gesprochen habe. Es gilt also zunächst, sehr dringend, ideologische Überzeugungsarbeit zu leisten. Es geht darum, die Modalitäten der europäischen Souveränität und Autonomie zu definieren, um aus eigener Kraft Einfluss ausüben zu können, statt zum Vasallen dieser oder jener Macht zu werden, ohne unsere Position vertreten zu können.
Anschließend müssen wir Spannungen zur Kenntnis nehmen, sie gemeinsam analysieren und eine geeignete Vorgehensweise entwickeln. In Europa werden sehr viele Themen ausgeblendet. Um es klar zu sagen: Im geostrategischen Bereich haben wir uns das Nachdenken abgewöhnt, da wir unsere geopolitischen Beziehungen stets nur mittels der NATO definiert haben – Frankreich historisch bedingt weniger als andere, aber dieses Über-Ich ist nach wie vor präsent, mitunter begehre ich dagegen auf. Der Gedanke, dass man in Europa eine gemeinsame Lesart der Welt und unserer Absichten schaffen kann, ist also ein erster entscheidender Schritt. Was wir mit dem Friedensforum, dem Paris-Konsens und unserem Engagement für das französische und europäische politische Handeln erreicht haben, all das ist entscheidend.
Auf sehr kurze Sicht erfolgt unsere Antwort zunächst durch Akteurskoalitionen. Seit dem ersten Tag befolge ich ein pragmatisches Vorgehen, in dem man von dem ausgeht, was man hat, und am Beispiel des eigenen Handelns zeigt, dass es vorangeht. Als die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden haben, das Pariser Klimaabkommen zu verlassen, habe ich zwei Stunden später als Anspielung auf Präsident Trump die Rede Make our planet great again gehalten, und einige Monate später haben wir, am Jahrestag des Übereinkommens von Paris, im Élysée-Palast den ersten One Planet Summit organisiert. Wir haben eine Akteurskoalition auf den Weg gebracht: Gemeinsam mit mehreren US-Bundesstaaten, US
Unternehmen und großen Geldgebern haben wir mehrere Dutzend Koalitionen initiiert, um konkrete Aussagen zu treffen, mal zum Kampf gegen Desertifikation, mal zur Reduktion des CO2-Ausstoßes oder auch der Fluorkohlenwasserstoff-Emissionen. Das haben wir seit dem One Planet Summit im Dezember 2017 kontinuierlich getan. Dabei haben wir uns mit Akteuren zusammengetan, die im Zusammenspiel der Nationen nicht ausreichend präsent waren: So habe ich einen One Planet Summit in Afrika abgehalten, da meiner Ansicht nach unsere Strategie afrikanisch-europäisch sein muss. Diese Neuausrichtung muss sich auf ein geopolitisch stärker geeintes Europa stützen, das Afrika als vollkommen gleichgewichtigen Partner einbezieht. So haben wir es in Nairobi zum Kampf gegen die Desertifikation umgesetzt. Auch als Frankreich den G7-Vorsitz innehatte, haben wir entsprechend gehandelt: Wir haben Akteurskoalitionen gebildet, um den weltweiten Seetransport zu reduzieren, um die Fluorkohlenwasserstoff-Emissionen zu senken, und einen G7-Gipfel gemeinsam mit den afrikanischen Staaten ausgerichtet. Diese waren an der Hälfte des Programms beteiligt.
Es geht also in einem ersten Schritt darum, unser Denkschema zu erneuern: mehr Europa. Zweitens brauchen wir eine echte europäisch-afrikanische Partnerschaft, weil wir gemeinsam den Schlüssel zur Problemlösung besitzen. Und schließlich müssen wir sehr konkrete Koalitionen mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren aufbauen – Unternehmen, Verbänden – um auf einem gemeinsam definierten Weg Ergebnisse zu erzielen. Anschließend können wir dann breitere Bündnisstrategien entwickeln. Mit einer solchen Strategie haben wir es geschafft, ebenfalls beim Thema Klima, China im Boot zu behalten. China nimmt an jedem One Planet Summit teil und kündigt die Stärkung eines chinesischen CO2-Handels und die Einführung eines CO2-Preises an. Weil wir es verstehen, aktiv zu sein und diese Koalitionen einzubeziehen, ohne in einer passiven Strategie zu verharren, gelingt es uns auch, die Chinesen einzubinden. Meine Hoffnung ist, dass es uns möglich sein wird, in den kommenden Monaten mit China einen Schritt in Richtung der Klimaziele für 2030 und der Klimaneutralität im Jahr 2050 zu machen und die USA auf dieser Grundlage wieder einzubinden.
Ein anderes Beispiel dieser Taktik, die ich seit drei Jahren anwende, um diese Ziele zu erreichen, betrifft die sozialen Netzwerke: für den Kampf um unsere Freiheiten, öffentliche Standards sowie gegen Hass im Internet und Terrorismus. Nach dem Terroranschlag in Großbritannien im Sommer 2017 kam Theresa May am 13. Juni nach Paris und wir haben die großen Plattformen und sozialen Netzwerke aufgerufen, bei ihnen verbreitete terroristische Inhalte zu löschen. Diese Forderung haben wir anschließend bei den Vereinten Nationen eingebracht. Ein Jahr lang, und das war ein harter Kampf, haben wir sehr wenig Unterstützung erfahren; die Anhänger von free speech haben sich gegen diesen Vorschlag aufgelehnt. In der UNO ebenso wie in der EU standen wir ziemlich allein da. Es ist uns tragischerweise erst durch den Anschlag von Christchurch gelungen, die Dinge voranzutreiben. Am 13. Mai 2019 habe ich die neuseeländische Premierministerin sowie mehrere europäische und afrikanische Regierungschefs in den Élysée-Palast eingeladen – nach wie vor mit dem Ziel, verschiedene geographische Räume einzubinden; anwesend waren auch die wichtigsten Verantwortlichen der großen Plattformen (Twitter, Facebook, Google usw.). Sie alle haben sich auf die golden hour verpflichtet, also dazu, terroristische Inhalte innerhalb von einer Stunde zu löschen. Es handelt sich nicht um ein Gesetz, sondern um eine neuartige Form einer hybriden Selbstverpflichtung gegenüber souveränen Staaten, um auf das Problem zu reagieren. In einigen Tagen werden wir hoffentlich erreichen, dass das Parlament einen Text beschließt, der diese golden hour in Europa verpflichtend festschreibt.
Wir können angesichts jeder dieser Krisensituationen etwas bewirken, wenn unsere Prinzipien und Ziele klar sind und wenn es uns gelingt, originelle, neue Handlungsstrategien aufzubauen, zwischen Staaten und mit mächtigen nichtstaatlichen Akteuren. Das setzt jedoch entweder eine sehr schnelle Reaktion bei einem Schock voraus – wie im Fall von Christchurch – oder die Schaffung der Grundlage für eine gemeinsame Denkweise und einen gemeinsamen Blick auf die Welt, um zu zeigen, dass wir angesichts dieser gemeinsamen Herausforderungen eine wirkungsvolle Zusammenarbeit aufbauen müssen.
Ein letztes Beispiel wäre der ACT-Accelerator. Als das Virus aufgetaucht ist, hatten wir vor allem eine große Sorge: Wie würden Afrika und andere arme Länder reagieren können, wenn das Virus bei ihnen auftritt? Wie würden sie überleben, wenn schon bei uns die einzige Lösung darin besteht, unsere Grenzen zu schließen? Sofort haben wir, online, eine Sitzung des Büros der Afrikanischen Union mit mehreren führenden Politikern einberufen, um anschließend ihre Stimme auf europäischer Ebene und gegenüber den G20 zu vertreten. Und wir haben diese ACT-A-Initiative mit der Afrikanischen Union, der Europäischen Union, den anderen G20- Ländern und der WHO ausgearbeitet, um eine bessere Finanzierung der primären Versorgungssysteme zu ermöglichen und vor allem zu gewährleisten, dass ein Impfstoff ein globales öffentliches Gut sein würde, sowie um uns in die Lage zu versetzen, genug davon zu produzieren, um auch die ärmsten Länder zu versorgen. Uns stehen in jeder Situation Lösungen zur Verfügung, aber wir müssen für jedes dieser Themengebiete die notwendigen Innovationen schaffen.
Könnten Sie noch einmal auf die Begriffe des geopolitischen Europas zurückkommen? Welche konkrete Definition steckt hinter Souveränität, strategische Unabhängigkeit, Europa als Macht?
Europa ist nicht nur ein Marktplatz. Seit Jahrzehnten tun wir stillschweigend so, als wäre die Europäische Union ein gemeinsamer Markt. Aber wir haben Europa für uns selbst nicht als fertigen politischen Raum gedacht. Unsere Währungsunion ist nicht abgeschlossen. Bis zu den Beschlüssen von diesem Sommer gab es kein wirkliches gemeinsames Budget und keine konkrete finanzielle Solidarität. Wir haben die sozialen Themen, die uns zu einem gemeinsamen Raum machen, nicht zu Ende gedacht. Und wir haben nicht ausreichend überlegt, was uns zu einem Machtfaktor im Zusammenspiel der Nationen macht, als eine hochgradig vernetzte Region mit einem klar politisch ausgerichteten Profil. Europa muss sich selbst politisch neu erfinden und politisch handeln, um gemeinsame Ziele abzustecken, die nicht einfach nur unsere Zukunft an den Markt übertragen.
Das heißt konkret, wenn wir über Technologien sprechen, muss die Europäische Union ihre eigenen Lösungen aufbauen, um nicht von einer amerikanisch-chinesischen Technologie abhängig zu sein. Denn wenn wir auf diese angewiesen sind, zum Beispiel im Bereich der Telekommunikation, können wir den EU-Bürgern nicht die Vertraulichkeit von Informationen und den Schutz ihrer privaten Daten garantieren, da wir nicht über diese Technologie verfügen. Als politische Macht muss die Europäische Union Cloud-Lösungen anbieten können, ansonsten werden Ihre Daten an Orten abgespeichert, die nicht unserem Rechtssystem unterliegen – so geschieht es zurzeit. Wenn wir also über derart konkrete Themen sprechen, dann sprechen wir im Kern über Politik und Bürgerrechte. Wenn die Europäische Union ein politischer Raum ist, dann müssen wir diesen so aufbauen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Rechte haben, die wir politisch garantieren können.
Um es klar zu sagen: Wir haben dabei zugeschaut, wie Situationen entstanden sind, in denen dies nicht mehr wirklich der Fall ist. Heute sind wir dabei, beispielsweise für das Telefon eine technologische Autonomie neu aufzubauen, nicht aber für die Datenspeicherung in der Cloud. Unsere Informationen befinden sich in einer Cloud, die nicht EU-Recht unterliegt, und im Falle eines Streitfalls hängen wir vom guten Willen und Funktionieren derUS-amerikanischen Rechtsprechung ab. Aus politischer Sicht ist das für gewählte Vertreter unerträglich, denn das bedeutet, dass wir nicht die Möglichkeiten geschaffen haben, etwas zu garantieren, dass Sie als Bürgerinnen und Bürger legitimerweise von mir verlangen – den Schutz Ihrer Daten, eine diesbezügliche Garantie oder Regulierung, in jedem Fall eine informierte und transparente gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema.
Dasselbe gilt für die Extraterritorialität des Dollars, eine Tatsache, die nicht neu ist. Noch vor weniger als zehn Jahren wurden verschiedene französische Unternehmen mit Strafen in Höhe von mehreren Millionen Euro belegt, weil sie in Ländern aktiv waren, die einem Verbot nach US-Recht unterlagen. Konkret bedeutet das, dass unsere Unternehmen von einer ausländischen Macht bestraft werden können, wenn sie in einem Drittland aktiv sind. Das stellt einen Entzug der Souveränität und der Möglichkeit dar, für uns selbst Entscheidungen zu treffen, also eine massive Schwächung.
Wir haben leider alle Konsequenzen dieser Situation im Kontext der Iran-Diskussionen zu spüren bekommen. Wir EU-Staaten wollten die Zusammenarbeit im Zuge des Atomabkommens mit dem Iran (JCPOA) fortsetzen. Da die USA aus dem Abkommen ausgestiegen waren, konnte kein europäisches Unternehmen seine Wirtschaftsaktivitäten mit dem Iran fortsetzen, aus Angst vor möglichen Sanktionen seitens der Vereinigten Staaten. Wenn ich also von Souveränität und strategischer Autonomie spreche, verbinde ich all diese Themen, die auf den ersten Blick sehr weit voneinander entfernt zu sein scheinen.
Wovon hängt es ab, dass wir Entscheidungen für uns selbst treffen? Darin liegt die Autonomie: in der Idee, dass wir die für uns gültigen Regeln selbst festlegen. Dazu gehört es, in den Bereichen Technologie, Finanzwesen und Währungen einen neuen Blick auf politische Praktiken zu werfen, an die wir uns gewöhnt haben, Praktiken zum Aufbau einer eigenen europäischen Politik mit Lösungen für uns, unsere Unternehmen und unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns ermöglichen, mit anderen zu kooperieren, nach unserer eigenen Entscheidung, statt von anderen abhängig zu sein, wie es heute noch allzu oft der Fall ist. Wir haben die Dinge in den letzten Jahren deutlich verbessert, aber dieses Problem nicht gelöst.
Können wir so weit gehen, von europäischer Souveränität zu sprechen, wie ich es selbst bereits getan habe? Ich gebe zu, dass das ein etwas überzogener Begriff ist, denn wenn es eine europäische Souveränität gäbe, dann gäbe es auch eine vollständig etablierte europäische politische Macht. So weit sind wir noch nicht. Wir haben ein Europäisches Parlament, das sich immerhin für die Vertretung der Bevölkerung der EU einsetzt, aber ich halte diese Formen der Repräsentation nicht für völlig zufriedenstellend. Aus diesem Grund hatte ich mich übrigens stark für länderübergreifende Listen eingesetzt, also das Zutagefördern eines wahren europäischen demos, der sich stärker transversal strukturieren könnte, statt separat in jedem Land und dort jeweils innerhalb seiner jeweiligen politischen Familie. Ich hoffe, dass uns dies bei der nächsten Wahl möglich sein wird. Wenn wir echte europäische Souveränität wollen, brauchen wir wohl europäische Regierungschefs, die vollständig vom europäischen Volk gewählt werden. Es handelt sich gegenwärtig also, wenn ich so sagen darf, um eine transitive Souveränität. Doch aus der Tätigkeit der EU-Kommission, des Europäischen Rates mit den von ihrem jeweiligen Volk gewählten Staats- und Regierungschefs sowie des Europäischen Parlaments bildet sich eine neue Form der Souveränität heraus, die nicht national sondern europäisch ist.
Allerdings spreche ich vom Wesen der Souveränität, wenn ich diesen Begriff verwende, das wir vielleicht in neutralerer Form in der Bezeichnung „strategische Autonomie“ wiederfinden. Ich halte es für unabdingbar, dass unser Kontinent Mittel und Wege findet, für sich selbst zu entscheiden, sich auf sich selbst zu verlassen, nicht von anderen abhängig zu sein – und zwar wie gesagt in allen Bereichen, in technologischer Hinsicht, aber auch in Fragen der Gesundheits- und Geopolitik – und frei über seine Zusammenarbeit mit wem auch immer zu befinden. Warum? Weil ich denke, dass wir ein geographischer Raum mit kohärenten Werten und Interessen sind, den es an sich zu verteidigen lohnt. Wir bilden eine Zusammenfügung unterschiedlicher Völker und Kulturen. In keinem anderen geographischen Raum gibt es eine derart vielfältige Verdichtung verschiedener Sprachen und Kulturen. Doch es gibt etwas, das uns verbindet. Im Übrigen merken wir, dass wir Europäer sind, wenn man uns auf andere Kontinente schickt. Wir spüren unsere Unterschiede, wenn wir unter Europäern sind, aber wir fühlen eine Form von Nostalgie, wenn wir Europa verlassen.
Dennoch bin ich einer Sache gewiss: Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sind unsere historischen Verbündeten, wir schätzen die Freiheit und die Menschenrechte ebenso wie sie, wir sind intensiv miteinander verbunden, aber wir haben zum Beispiel eine Vorliebe für Gleichheit, wie sie in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht zu beobachten ist. Unsere Werte sind nicht so ganz dieselben. So fühlen wir uns etwa der sozialen Demokratie verpflichtet, die mehr Wert auf Gleichheit legt, unsere Lösungsansätze unterscheiden sich hier voneinander. Ich denke auch, dass die Kultur bei uns eine größere Rolle spielt, eine viel größere. Und schließlich ist unsere räumliche Vorstellungswelt eine andere, in Verbindung mit Afrika und dem Nahen Osten, wodurch unsere Interessen auseinandergehen können. Unsere Nachbarschaftspolitik mit Afrika, dem Nahen Osten oder Russland stellt für die Vereinigten Staaten von Amerika keine Nachbarschaftspolitik dar. Es ist also nicht haltbar, dass unsere internationale Politik von ihr abhängig ist oder ihr Anhängsel bildet.
Und was ich hier sage, gilt umso mehr für China. Aus all diesen Gründen halte ich das Konzept einer europäischen strategischen Autonomie oder einer europäischen Souveränität für sehr überzeugend, sehr fruchtbar. Es definiert uns als zusammenhängenden politischen und kulturellen Raum und wir sind es unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig, dass sie nicht von anderen abhängig sind. Das ist die Grundbedingung, um im aktuellen Konzert der Nationen Gewicht zu haben.
Sie sprechen davon, Gewohnheiten zu verändern, aber diese Position bleibt bislang am noch nicht hängen. Worin bestehen die Blockaden? Woran liegt es, dass diese Vision trotz allem Schwierigkeiten hat, Wirklichkeit zu werden?
Da bin ich mir nicht so sicher. Als ich diese Vorstellung bei meiner Rede in der Pariser Sorbonne erstmals angeführt habe, hieß es vielfach „das schafft er nicht, das ist eine französische fixe Idee“. Gerade einmal drei Jahre später haben wir ein Europa der Verteidigung, einen Europäischen Verteidigungsfonds, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit sowie eine Interventionsinitiative mit knapp zehn Gründungsmitgliedern. Im Technologie-Bereich gehen die Dinge voran, seit Frankreich die Idee einer gemeinsamen europäischen Entwicklung der 5G-Technologie lanciert hat, und Deutschland ist dabei, sich uns bei diesem Thema anzuschließen, was angesichts des dortigen Vorsprungs keine Selbstverständlichkeit war. Wir sind also auf einem konkreten Weg, unsere Souveränität im Bereich der Technologie neu auszurichten. Die Gesundheitskrise hat dazu geführt, dass wir unsere Souveränität in diesem Bereich sowie in der Gesundheitsindustrie überdacht haben. Sie war ein Indikator für unsere Abhängigkeiten. Wenn ganz Europa um Handschuhe und Masken bettelt, verstehen wir alle, dass wir erneut auf unserem Territorium Handschuhe und Masken produzieren sollten. Genau dazu dient der Aufbauplan.
Bei Finanzthemen hat es einige Zeit gedauert, aber im Juni 2018 konnten Frankreich und Deutschland gemeinsam die Erklärung von Meseberg über die Einführung eines gemeinsamen Eurozonen-Budgets unterzeichnen, um die Themen der wirtschaftlichen und finanziellen Autonomie der EU voranzubringen. Daraus ist auf europäischer Ebene eine unvollkommene Übereinkunft hervorgegangen, und wegen der Covid-19-Krise haben wir die deutsch-französische Vereinbarung vom Mai 2020 unterzeichnet, die es ermöglicht, die Wirtschaftshilfen auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags auszuweiten, und die den Weg für die historische Vereinbarung vom Juli ebnete, die in Rekordzeit eine budgetäre Antwort auf die Krise vorlegte, aber auch die Grundlagen für den Aufbau eines EU-weiten Haushalts entwickelte. Dieser Beitrag ist nicht zu unterschätzen. Zum ersten Mal entscheiden wir, uns gemeinsam zu verschulden, um das Geld gemeinsam in je nach Region und Sektor unterschiedlicher Weise dort zu investieren, wo am meisten Bedarf besteht. Das entspricht einer Transferunion, die auf einer gemeinsamen Unterschrift, einer gemeinsamen Verschuldung beruht. Dies ist also ein wirklich entscheidender Punkt, um die Souveränität des Euro aufzubauen und ihn zu einer echten Währung zu machen, die nicht oder deutlich weniger von anderen abhängt, und um innerhalb unseres Bündnisses eine Haushaltssouveränität zu schaffen. Wir sind also in all diesen Punkten vorangekommen. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, bei geopolitischen Entscheidungen – wie man an unseren unterschiedlichen Positionen zu Russland oder der Türkei sieht – und in der Kraft unserer Antworten, aber ich gehe davon aus, dass der Weckruf angekommen ist.
Wenn man es ohne Umschweife ausdrücken möchte, stellt sich folgende Frage: Wird der Regierungswechsel in den USA dazu führen, dass die EU-Länder diese Ziele weniger konsequent verfolgen? Ich teile beispielsweise ganz und gar nicht die von der deutschen Verteidigungsministerin in einem Gastbeitrag für Politico geäußerte Position. Ich halte das für eine Fehlinterpretation der Geschichte. Zum Glück verfolgt die deutsche Kanzlerin nicht diese Linie, wenn ich es richtig verstanden habe. Aber die Vereinigten Staaten werden uns nur als Verbündete akzeptieren, wenn wir uns selber ernst nehmen, und wenn wir in unserer eigenen Verteidigung souverän sind. Ich denke daher, dass der Regierungswechsel in den USA vielmehr eine Chance ist, in völlig beruhigter und entspannter Weise weiter am unter Verbündeten notwendigen gegenseitigen Verständnis dafür zu arbeiten, dass wir den Aufbau unserer eigenen Autonomie fortsetzen, genau wie es die Vereinigten Staaten und China jeweils für sich auch tun.
Sie sprachen von erfolgreichen Kooperationen, von vielen Fortschritten: China hat das Großprojekt der Neuen Seidenstraßen, das sind Visionen, die uns in Europa schwerfallen, ein Großprojekt, ein Traum von der Zukunft. Kehren sich diese Dinge bei uns eher nach innen? Geht es um mehr Integration, mehr Greening, oder handelt es sich dabei dennoch um Vorstellungen für die ganze Welt? Welches ist das europäische Großprojekt, der europäische Traum?
Sie haben Recht: Die Neuen Seidenstraßen haben den Vorteil, ein mächtiges geopolitisches Konzept zu sein. Das ist eine Tatsache. Und es ist der Beweis für die Vitalität einer Nation, ihre Seelenstärke. Wir haben über historische Bezüge und die Zeit nach 1989 gesprochen: Man muss betonen, dass Europa seine inneren Krisen gemeistert hat, aber es ist so, als mangele es ihm an Zielen. In Europa gibt es eine moralische Krise, weil es all diese historischen Kämpfe schon geführt hat, dazu gehört der Kampf gegen die Barbarei, gegen die totalitären Regime. Welches sind nun die zeitgenössischen Kämpfe? Denn ein Kampf oder ein gemeinsamer Traum schaffen immer eine Wertordnung. Welches sind Europas gegenwärtige Kämpfe?
Ich werde Ihnen sagen, wie ich darüber denke. Es gibt einen positiven Kampf, der darin besteht, aus Europa die führende Macht in Sachen Bildung, Gesundheit, Digitalisierung und Umweltschutz zu machen. Das sind die vier Fronten, an denen wir es mit großen Herausforderungen aufnehmen werden. Der Traum wäre, massiv zu investieren, um das zu schaffen. Und ich denke, dass wir ganz klar die Möglichkeit haben, das zu tun, und dass der Aufbauplan, den wir erstellt haben, in diese Richtung geht, und unsere jeweilige nationale Politik ebenso. Das ist ein Traum für uns selbst. Das ist ein Ziel, das mobilisiert, das viele Dinge verändern wird, aber ich denke, dass man sich davon eine Auswirkung auf den ganzen Planeten versprechen kann, denn es zieht China und die USA in den Bann eines anregenden Ziels, und gleichzeitig ist es die Voraussetzung für ein Leben in Harmonie bei uns sowie mit dem Rest der Welt. Ich habe die Bildung miteinbezogen, weil sie meiner Meinung nach eine Herausforderung ist, die wir vernachlässigt haben und die von grundlegender Bedeutung ist.
Für mich gibt es eine weitere Herausforderung, die da wäre, dass Europa seine Werte wieder großschreibt. Sie werden gerade überall aufgegeben. Der Kampf, den wir gegen den Terrorismus und den radikalen Islamismus führen, ist ein europäisches Anliegen, es ist ein Kampf um Werte. Es ist ein Kampf für uns und im Grunde glaube ich, dass der heutige Kampf wieder gegen Barbarei und Obskurantismus geführt wird. Das ist das, was gerade geschieht. Es ist in keinster Weise ein Kampf der Kulturen, dieser Lesart kann ich gar nicht folgen, denn es handelt sich nicht um ein christliches Europa, das sich gegen die muslimische Welt stellt, eine falsche Vorstellung, zu der uns manche hinreißen wollen. Es geht um ein Europa, das jüdisch-christliche Wurzeln hat, das ist eine Tatsache, aber die Europäer haben zwei Dinge begründet: das Nebeneinanderbestehen von Religionen und die Säkularisierung der Politik. Das sind zwei Errungenschaften Europas. Denn damit haben wir das Primat des vernunftgeleiteten, also freien Individuums anerkannt und somit den Respekt für andere Religionen. Und genau darum geht es auch in der gerade weitgehend gegen Frankreich geführten Debatte, und ich glaube, man hat noch nicht ganz ermessen, welch kolossaler historischer Rückschlag das ist.
Die ganze Debatte, die stattgefunden hat, bestand im Grunde darin, von Europa Entschuldigungen für Freiheiten zu verlangen, die hier gewährt werden. Und im Besonderen von Frankreich. Und die Tatsache, dass diese Debatte in Europa so wenig Resonanz hatte, oder dass sie mit so viel Verlegenheit geführt wurde, sagt etwas über die moralische Krise aus, in der wir uns befinden. Aber ist stehe vollkommen dazu. Wir sind ein Land der Freiheit, in dem keine Religion bedroht wird, in dem keine Religion unwillkommen ist. Ich will, dass alle Bürger ihre Religion so ausüben können, wie es ihnen beliebt. Aber wir sind auch ein Land, in dem Rechte und Gesetze der Republik gebührend geachtet werden müssen, denn wir sind zuerst Bürger, wir haben ein gemeinsames Projekt und eine gemeinsame Vorstellung der Welt: Wir sind keine Multikulturalisten, wir reihen Weltvorstellungen nicht aneinander, wir trachten eher danach, zusammen eine gemeinsame Vorstellung aufzubauen, ganz gleich welche Überzeugungen man im Bereich der Privatsphäre und des Spirituellen hat.
Auf dieser Grundlage haben wir Rechte: die Meinungsfreiheit, die Freiheit zur Karikatur, über die so viel geschrieben wurde. Vor fünf Jahren, als man diejenigen getötet hat, die Karikaturen zeichneten, hat alle Welt in Paris demonstriert und diese Rechte verteidigt. Nun haben wir einen enthaupteten Lehrer, mehrere enthauptete Menschen. Viele Beileidsbekundungen waren verhalten und wir hatten politische und religiöse Führer eines Teils der muslimischen Welt, die gemeinsam vorgegangen sind, – und einschüchternd auf den anderen Teil gewirkt haben, das muss ich zugeben –, und gesagt haben: „Sie müssen eben ihr Recht ändern“. Das schockiert mich und als Staatschef möchte ich niemanden schockieren, ich bin für den Respekt der Kulturen, der Zivilisationen, aber ich werde meine Gesetze nicht ändern, weil sie andere schockieren. Und eben weil Hass in unseren europäischen Werten verboten ist, die Würde des Menschen über allem anderen steht, kann ich Sie schockieren, und weil Sie mich im Gegenzug auch schockieren können, können wir darüber diskutieren, uns streiten, denn wir werden nicht aufeinander losgehen, da das verboten ist und die Würde des Menschen allem übergeordnet ist. Wir akzeptieren gerade, dass Regierungschefs und religiöse Führer etwas Schockierendes und etwas Darstellendes sowie den Tod eines Mannes und Terrorismus einander als gleichwertig gegenüberstellen – das haben sie getan –, und wir sind eingeschüchtert genug und trauen uns nicht, das zu missbilligen.
Das besagt für mich eines: Der Kampf unserer Generation in Europa wird ein Kampf um unsere Freiheiten sein. Weil sie gerade kippen. Es geht nicht um eine Neuerfindung der Aufklärung, aber wir müssen die Aufklärung gegen den Obskurantismus verteidigen. Das steht fest. Und lassen wir uns doch nicht auf die Seite derer drängen, die Unterschieden keine
Achtung entgegenbringen können. Das entspricht nicht der Wahrheit und verkennt die Geschichte. Respekt ist nur möglich, wenn die Würde des Menschen über allem steht, aber dieser Respekt kann nicht auf Kosten der Meinungsfreiheit gehen. Sonst ist es kein wahrer Respekt, und das würde bedeuten, dass man Diskutierfreude und Konfliktbereitschaft, die im Gespräch und in der Debatte ihren Platz haben, aufgibt. Und genau das wollen sie. Da hat Europa eine Verantwortung, das ist also für mich der zweite Kampf, den man führen muss, der Einsatz für unsere Werte. Das Wort scheint zu allgemein, aber es ist der Kampf für die Aufklärung.
Und das dritte große europäische Projekt ist für mich ein Wandel der Beziehungen zu Afrika und der Aufbau einer afrikanisch-europäischen Achse. Das kann eine ganze Generation dauern, aber ich glaube, dass es für uns ausschlaggebend ist. Europa wird nicht erfolgreich sein, wenn Afrika es nicht ist. Das ist sicher. Wenn man es nicht schafft, Sicherheit, Frieden und Wohlstand zu schaffen, zeigt es sich in der Migration. Man sieht es, weil Afrika in unserer Gesellschaft lebendig ist. Wir haben in allen unseren Gesellschaften einen Teil Afrikas, der mit ihnen im Einklang steht. Und wenn ich Afrika sage, spreche ich von Afrika und dem Mittelmeerraum im weiteren Sinn.
Aber wir haben etwas aufzubauen. Und wenn ich Wandel sage, meine ich, dass wir es schaffen sollten, dass Afrika Europa anders sieht und dass wir selbst Afrika anders sehen, das heißt als Chance, als großartige Gelegenheit zu einer gemeinsamen Entwicklung, um dieses Projekt, von dem ich sprach, für uns zum Erfolg zu bringen. Das sage ich, weil ich nicht glaube, dass wir vorankommen oder unsere Probleme lösen, indem wir in unserer Geschichte gefangen bleiben. Ich habe selbst bedeutende Arbeiten zur Vergangenheitsbewältigung und zur Politik im Hinblick auf Algerien veranlasst, aber ich sehe in unserer Geschichte eine Art Rückkehr des Ressentiments und des Verdrängten, in dem sich alle Aspekte vermischen: Post-Dekolonisierung, religiöse, wirtschaftliche und soziale Themen, was zu einer Art Kommunikationsunfähigkeit zwischen Europa und Afrika führt. Ich denke, man sollte diese Fäden entwirren und vor allem Afrika viel kräftiger in der Fähigkeit unterstützen, sich selbst zu entwickeln, und den bei uns lebenden und aus Afrika stammenden Gemeinschaften zu neuem Stolz verhelfen, denn sie könnten wunderbare Kräfte dieser Chance werden und nicht Probleme, wofür man sie meistens hält. Deswegen spreche ich von einem Wandel unserer Betrachtungsweise, damit wir es schaffen zu zeigen, dass der Universalismus, den wir vertreten, nicht derjenige eines Beherrschers ist, wie er es zu Zeiten des Kolonialismus war, sondern einer von Freunden und Partnern. Das sind für mich die drei großen Herausforderungen, die es zu meistern gilt.
Was diesen letzten Punkt betrifft, sprechen Sie über eine Kommunikationsunfähigkeit im Verhältnis zu Afrika. Gibt es nicht auch innerhalb von Europa eine Art Kommunikationsunfähigkeit zwischen den westlichen und den östlichen Staaten bezüglich des Ausbaus der Partnerschaft mit Afrika?
Zunächst meine ich nicht, dass die Kommunikation unmöglich ist, sondern dass sich Schwierigkeiten und Probleme häufen, dass von manchen vieles vermischt und manipuliert wird. Es gibt zu diesem Thema einige Manipulation. Sie ist von Seiten einiger nach Hegemonie strebender Mächte offensichtlich, die in Afrika einen neuen Imperialismus betreiben und sie Ressentiments nutzen, um Europa und Frankreich zu schwächen.
Wenn man die EU und ihre Beziehung zu Afrika betrachtet, findet man siebenundzwanzig Geschichten mit Afrika. Ich würde nicht sagen, dass dabei Ost- und Westeuropa im Widerspruch stehen. Nehmen Sie Frankreich und Deutschland: Wir haben nicht die gleiche Beziehung zu Afrika. Zunächst weil Sprache wichtig ist und ein Großteil Afrikas französischsprachig ist. Und wir haben mit dem französischsprachigen Teil Afrikas eine besondere Geschichte. Ich selbst wollte mit dem englisch- und dem portugiesischsprachigen Afrika eine enge Beziehung aufbauen und ich stehe dazu. Ich bin der erste französische Präsident, der zum Beispiel in Ghana oder in Kenia war. Oder der nach Lagos geflogen ist. Das scheint verrückt, aber so war es. Frankreich hatte nur zu gewissen Ländern Afrikas eine Beziehung. Wie Sie wissen, hat Deutschland eine ganz andere Beziehung zu Afrika, und sie entstand Ende des 19. Jahrhunderts. So denke ich, dass wir in unserer Geschichte vielfältige Beziehungen zu Afrika haben, die unsere heutige Haltung dazu nicht übertrieben bestimmen Ich denke, man sollte Osteuropa voll und ganz in diese Politik miteinbeziehen. Und ich denke, wenn man das macht, funktioniert das sehr gut. Ich stelle fest, dass mehrere Staaten aus Osteuropa oder Nordeuropa mitmachen, wenn es um Hilfe zur Sicherheit in Afrika geht. Unser bester Partner in Mali ist Estland, ja, Estland, denn das Prinzip strategischer Autonomie hat sie überzeugt – vor allem, weil sie vor Russland Angst haben, weil sie ihr eigenes Interesse darin gesehen haben – und da wir ihnen angeboten haben, mit uns zusammenzuarbeiten, erwerben sie Kenntnisse, machen bei allen Operationen mit, die wir dort durchführen, selbst bei den ganz besonderen der Spezialeinheiten, der so genannten Task Force Takuba. Ich glaube also, dass es keine Unterschiede zwischen diesen beiden Teilen Europas gibt.
Es gibt unterschiedliche Empfindlichkeiten. Und was könnte im Grunde die Beziehung Europas zu Afrika heute kompliziert machen? Das ist das Thema Migration, das ist es. Man sieht Afrika nur unter diesem Blickwinkel. Ich halte das für einen Fehler. Und den muss man in mancherlei Hinsicht beheben. Heute findet ein massiver Missbrauch des Asylrechts statt. Das bringt alles durcheinander. Schleuser, die oft auch Waffen und Drogen schmuggeln, die mit dem Terrorismus in Zusammengang stehen, haben einen Menschenhandel organisiert. Sie versprechen ein besseres Leben in Europa und bauen ganze Netzwerke auf, die das Asylrecht missbrauchen. Wenn Hunderttausende Frauen und Männer jedes Jahr auf unserem Boden ankommen, die aus Ländern stammen, in denen Frieden herrscht und zu denen beste Beziehungen bestehen, denen wir jährlich Hunderttausende Visa ausstellen, dann geht es sich nicht mehr um Asylrecht. Oder vielmehr geht es in 90 % der Fälle nicht um Asylrecht. Es gibt also Missbrauch. Und es gibt Spannungen diesbezüglich. Diese müssen wir im Dialog mit Afrika regeln, womit wir 2017/2018 begonnen hatten. Und wir müssen das mit viel Engagement wiederaufnehmen.
Aber dieses Thema sollte nur auf der einen Seite stehen. Auf der anderen – und das ist die wahre Aufgabe für Afrika – steht seine wirtschaftliche Entwicklung, sein Frieden und seine Sicherheit. Man sollte Afrika helfen, das Übel des Terrorismus zu bekämpfen, die dschihadistischen Gruppen im Sahel, in der Region um den Tschadsee und nun auch im Osten Afrikas, vom Sudan bis nach Mosambik, das sind absolut unhaltbare Situationen. Dann muss man dem Kontinent bei der wirtschaftlichen Entwicklung helfen, in der Landwirtschaft, im Unternehmertum, in der Bildung – besonders der Mädchen – und der Emanzipationspolitik, die wir in die Wege geleitet haben. Die wir aber viel weiter führen müssen. Das ist für mich der Schlüssel zum Erfolg.
Eine wichtiger Aspekt Ihrer Vorgehensweise und, wenn man so will, Ihrer Doktrin der internationalen Beziehungen, scheint ein Prinzip des Zusammenschlusses verschiedener Instanzen zu sein – Staaten, Unternehmen, lokale Akteure, Verbände. Geht es Ihnen dabei darum, den Multilateralismus der Staaten durch etwas anderes zu ersetzen? Und konkreter gefragt: Denken Sie, dass sich durch die Frage der Verteilung des Impfstoffs diese Doktrin bestätigen wird?
Das ist ein guter Test und womöglich ein ganz besonders bitterer. Ja, ich glaube, wenn man im Multilateralismus vorankommen möchte, muss man ihn funktionsfähig machen. Schauen Sie nur, wie der Multilateralismus während des Kalten Krieges funktioniert hat. Es gab trotz allem eine Form von gentlemen’s agreement, das heißt, es gab Bereiche, in denen man beschloss, gemeinsam voranzukommen. Trotz der Spannungen, die es gab, gelang es, Aufrüstungsstrategien zu stabilisieren, Konfliktregulierungspläne zwischen Blöcken abzusprechen, auch mit den blockfreien Staaten, die sich um die Blöcke herum zusammenschlossen. In den letzten Jahren kam es zu Auflösungserscheinungen, auch in den Mechanismen der Zusammenarbeit. Es gab die russische Strategie, internationale Gremien zu missachten, zu schwächen. Und eine Antwort der USA, die darin bestand, diese Gremien anzuprangern. Ich nehme das Beispiel der Abrüstung in Europa. Wir waren noch nie so ausgeliefert, zuerst aufgrund der russischen Missachtung, danach wegen des Austritts der USA aus den Programmen. Wir müssen also mit einem neuen Multilateralismus beginnen, in dem die Staaten nötig sind. Wenn es um Aufrüstung geht, wenn es um große geopolitische Fragen geht, brauchen Sie die Staaten. Man sollte aber originelle Koalitionen schaffen, um diejenigen, die blockieren, ausgrenzen zu können. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Ich muss feststellen, dass wir das im Beispiel Syrien nicht geschafft haben. Und diesbezüglich ist es für uns Europäer sehr schwierig, auf Regeln zu pochen, wenn die USA nicht mitmachen, weil wir weder eine ausreichende militärische Autonomie noch die Zustimmung aller haben. Das ist heute unsere Schwäche, wie wir bei Syrien gesehen haben.
Und was die großen Themen betrifft, das Gemeinwohl, die großen internationalen Themen, da reicht der Multilateralismus der Staaten tatsächlich nicht mehr. Wenn man über neue Technologien spricht, müssen Sie Plattformen einbeziehen, die sich außerhalb jeglicher Regulierung entwickelt haben, denn es gab keine Regeln, ich hätte beinahe gesagt trotz der Staaten, aber die USA haben das akzeptiert. Dort wurde eine Innovation betrieben, ohne dass Regeln existierten. Und so haben gewissermaßen private Akteure eine gemeinsame Welt erfunden, die man langsam regulieren muss, dafür setze ich mich ein: Das betrifft das Steuerwesen, Inhalte, Rechte der Bürger und Unternehmen und einen gemeinsamen öffentlichen Raum. Aber Sie müssen zusammenarbeiten und alle dafür gewinnen. Deswegen habe ich 2017 Tech for Good ins Leben gerufen; wir haben jedes Jahr eine Ausgabe und so konnten wir mehrere Initiativen in die Wege leiten, wie die von Christchurch, von der ich schon gesprochen habe. Wenn man übers Klima spricht, muss man genauso NGOs, Unternehmen, manchmal Regionen, Städte, Bundesstaaten mit ins Boot holen. Ich stehe zu diesem pragmatischen Ansatz, um Ergebnisse zu erzielen.
Zum Thema Gesundheit haben wir mit dem ACT-Accelerator und der COVAX- Strategie internationale Organisationen wie die WHO, Staaten, regionale Organisationen wie die Europäische Union und die Afrikanische Union an den Tisch geholt, wir haben branchenspezifische Fonds wie Unitaid und Gavi miteinbezogen, dazu private Stiftungen, wie die Gates-Stiftung zum Beispiel, Partner aus der Industrie und öffentliche Laboratorien, die an den Projekten arbeiten. Das ist vollkommen hybrid, aber mit einer Governance, die der WHO zugesprochen wurde, damit es keine Interessenkonflikte gibt. Denn die WHO gewährleistet einen Rahmen, in dem die Privatwirtschaft nicht über die Regeln für alle entscheidet. Sie werden sehen, es wird sicher viel Aufregung zu diesem Thema geben. Zunächst weil es eine Impfstoff-Diplomatie geben wird, denn jeder wird sein Fähnlein schwenken und sagen „ich hab ihn entwickelt“. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wird es zu einem Ansturm kommen, jeder will sehr schnell sagen können „wir haben den richtigen Impfstoff“. Da muss man sehr aufpassen. Und nachprüfen: Wurden alle wissenschaftlichen Regeln und die nötige Sorgfalt angewendet? Unsere staatlichen Wissenschaftler können das bestätigen, sowie diejenigen der WHO, weil sie keine Interessenkonflikte haben. Wir dürfen niemals vergessen, was wir erreicht haben: Der Staat ist der Garant des Allgemeininteresses. Das wird an niemanden abgetreten. Dabei haben die Staaten eine Rolle zu spielen.
Aber die Verhandlungen, die mit den Staaten und den Unternehmen geführt werden, stellen sich doch als guter Test für diesen neuen Multilateralismus heraus. Dabei geht es um das weltweite Gemeinwohl, jedenfalls um einen weltweiten Zugang zum Impfstoff. Das bedeutet, dass kein Laboratorium, das den Impfstoff entwickelt, das Recht hat, andere Laboratorien an der Produktion zu hindern, auch nicht für zusätzliche Dosen für die Schwellenländer. Ich weiß nicht, ob wir diese Schlacht gewinnen werden. Weil ich wirklich nicht sicher bin, ob sich alle Staaten darauf einlassen wollen. Wir werden sehen, ob China bereit ist, ob China den Impfstoff entwickelt, ob Russland bereit ist, ob die USA mit der neuen Regierung bereit sind – das war mit der früheren nicht sicher, also noch mit der derzeitigen – und wir werden sehen, wie sich die Unternehmen verhalten. Wie auch immer, wir haben einen gemeinsamen Rahmen geschaffen, mit allen wichtigen Akteuren, die sich an einen Tisch setzen, dazu kommen die WHO als Vertrauensinstanz, Kooperationsmechanisme sowie ein gewisser Konformitätsdruck. So haben wir die besten Chancen, dass derjenige auf der Verliererseite steht, der sich nicht korrekt verhält, wenn sich etwas ergeben hat. Aber genau das ist der neue Multilateralismus. Das muss man einfach feststellen. Sachlagen sind für viele Länder zur neuen Doktrin geworden: Russland mit der Ukraine, die Türkei mit dem östlichen Mittelmeerraum und jetzt mit Aserbaidschan. Das sind Strategien, die sich an Sachlagen orientieren, was bedeutet, dass sie vor internationalen Regeln keine Angst mehr haben. Man muss also Mechanismen der Umgehung finden, um sie einzuhegen.
Wir würden gerne auf das Klimaproblem zurückkommen, von dem Sie schon gesprochen haben, als große Priorität und absolute Dringlichkeit. Wie für den Impfstoff stellt sich auch hier die Frage der Politisierung. Der Umweltschutz strukturiert inzwischen die gesamte Politik. Würden Sie sich inzwischen als Umweltschützer bezeichnen?
Ja, ich bin im Übrigen Umweltschützer geworden. Dazu stehe ich und das habe ich schon mehrfach gesagt. Ich denke, dass der Kampf gegen den Klimawandel und für die biologische Vielfalt im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen stehen wird, die wir treffen müssen. Das heißt aber nicht, dass dieser Kampf unwiderruflich vorherrschend ist. Ich habe es schon gesagt, ich bin nicht für ein Recht der Natur, das über den Menschenrechten steht. Aber ich denke, dass man sich die Rechte des Menschen nicht mehr außerhalb dieser Interaktionen und Konsequenzen vorstellen kann. Das muss also in der Agenda an erster Stelle stehen. Und danach sind in allen Ländern Entscheidungen zu treffen, im Verhältnis zur Geschwindigkeit des Wandels und seinen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Meine Überzeugung ist – und das sage ich, nachdem ich viele Fehler gemacht habe, auch in meinem Land mit der CO2-Steuer –, dass man diese Wende nicht vollziehen kann, wenn man nicht massiv investiert und wenn man daraus nicht eine sowohl ökologisch als auch soziale Wende macht und wenn man die Produktionsweise nicht ändert, im Grunde den Kern des Modells unserer Strukturen. Auch das ist im Paris-Konsens enthalten. Ansonsten rennt man immer hinter einer Art Ungleichgewicht her und versucht es zu beheben. Nein, man muss anders produzieren. Und anders produzieren bedeutet, dass ich den Preis für CO2 ändern muss. Das haben wir auf europäischer Ebene gemacht. Ich muss die richtigen Anreize setzen.
Es ist also durchaus normal, dass das sehr schwer ist. Die 90er Jahre waren die Zeit der Fragestellungen. Danach kam die Zeit der beschwörenden Aufrufe, bis zum Übereinkommen von Paris – das heißt, man machte Gesetze, die für die Nachfolger galten und das mag man am liebsten als Politiker. Man verabschiedet ein bedeutendes Gesetz für die Wende im Land, den Wandel, hat aber keine Konsequenzen zu tragen. Wir haben diesmal kein Glück, wir werden mit der Realität und all ihren Spannungen umgehen müssen. Und das Thema ist wirklich voller Spannungen. Es gibt Leute, die die gleichen Ängste haben, aber wenn Sie Landwirt sind, einer der unser Land liebt, seine Erde, sein Vieh, aber dessen Wirtschaftsmodell von gewissen Substanzen abhängig ist, ist es sehr schwierig, sich umzustellen. Es geht also um eine Wende als Übergang, den man nicht von heute auf morgen verlangen kann, vor allem wenn die Nachbarländer nicht mitziehen. Wir sind an der Spitze, gehören zu denjenigen, die am weitesten sind. Aber man muss eine Übergangszeit hinnehmen, gute Anreize setzen, begleitend unterstützen. Man sollte nicht stigmatisieren. Man neigt oft dazu, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Schauen wir uns mal eine Familie an, die seit dreißig Jahren alles umgesetzt hat, was man von ihr erwartete. Man hat ihr gesagt: „Sie müssen einen Job finden“ – und sie hat einen Job gefunden. Man hat ihr gesagt: „Sie sollten ein Haus kaufen“ – nur ist ein Haus in einer großen Stadt viel zu teuer und so hat sie sich 40, 50, 60 Kilometer von der Großstadt entfernt eins gekauft. Und dann hat man ihr gesagt: „Das Erfolgsmodell verlangt, dass jeder sein Auto hat“ – und sie hat zwei Autos angeschafft. Man hat ihr gesagt: „Wenn Sie eine vorbildliche Familie sein wollen, müssen Ihre Kinder gut erzogen werden, sie müssen in die Musikschule gehen, in einen Sportverein usw.“, also fahren die Eltern ihre Kinder samstags hin und zurück, das macht vier Fahrten. Und dieser Familie sagt man nun: „Sie sind große Umweltsünder. Sie haben ein schlecht isoliertes Haus, Sie haben ein Auto, Sie fahren täglich 80, 100, 150 Kilometer. Die neue Welt mag Sie nicht.“ Da werden die Leute wahnsinnig. Sie sagen: „Aber ich hab’ doch alles richtig gemacht! Und selbst der französische Staat hat mir jahrzehntelang nahegelegt, Dieselfahrzeuge zu kaufen und ich habe Diesel getankt!“
Sie sehen, dass wir selbst die Dinge gerade wieder ändern. Für mich ist die Mobilität im Kampf gegen die globale Erwärmung am aufschlussreichsten. Es ist auch die Wärmedämmung der Gebäude – das werden wir angehen – aber es geht doch viel um Mobilität. Und darum, eine Familie wie diese davon zu überzeugen, ihren Wohnsitz in Richtung Stadtmitte zu verlegen oder ihr Haus besser zu isolieren oder mehr die öffentlichen Verkehrsmittel – wenn es welche gibt – zu nutzen oder die Fahrzeuge zu wechseln, damit sie weniger verschmutzen. Aber ich kann die Gewohnheiten einer Gesellschaft nicht in zwei Wochen verändern. Ich sage das alles – und ich stelle mir ein Beispiel aus dem wirklichen Leben vor – um zu verdeutlichen, wie schwierig die Wende zugunsten des Klimas und der Umwelt ist. Nichts rechtfertigt eine Verzögerung, aber alles rechtfertigt, dass wir uns viel gegenseitig Verständnis und Respekt entgegenbringen. Das bedeutet also, dass wir abwägen, ob es Zwänge gibt, auf die wir verzichten können. Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass Frankreich das erste Land ist, das seine Kohlekraftwerke schließt. Wir konnten das, aber es hat auch große Spannungen mit sich gebracht. Man muss den Menschen, die dort seit Jahrzehnten arbeiten, erklären: Sie werden Ihren Job verlieren, wir werden einen neuen für Sie anderswo finden. Und wir tun es, indem wir Fortschritte machen: Wir entwickeln verstärkt die erneuerbaren Energien und wir schaffen eine Wende in der Mobilität. Nur, der Rhythmus hängt von der Umsetzungskraft unserer Gesellschaften ab, nicht von Lobbys, Großinteressen, sondern von normalen Leuten. Weil man das Leben der Menschen nicht auf Knopfdruck verändert. Eben durch solche Annahmen habe ich Fehler gemacht.
Was ich Ihnen am Beispiel dieser Familie sagen will, ist das Bild, das sie Ende 2018 von mir hatte: Da ist ein Typ und dem kann man nur noch entgegnen: „Alles, was wir täglich machen, weil wir deine Ratschläge befolgt haben, wird nun plötzlich schlecht.“ Aber ich habe verstanden, dass wir einen Fehler gemacht haben. Wir müssen die ganze Gesellschaft mit einbeziehen. Für mich bedeutet es eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft. Und alle müssen alle an dieser Veränderung teilhaben. Wir müssen zeigen, dass jeder ein Akteur ist, dass jeder seinen Platz hat, was bedeutet, dass auch neue Wirtschaftssektoren intensiv entwickelt werden müssen, mit denen auf der einen Seite schneller Jobs geschaffen werden als sie auf der anderen Seite abgebaut werden. Denn man sollte sich nicht täuschen: Dieser Wandel erfolgt nach einer der großen historischen Veränderungen, der Globalisierung in einem offenen Kapitalismus. Die Mittelschicht in den europäischen und westlichen Demokratien hat diesen Wandel wie ein Opfer erlebt. Als man sagte: „Wir werden Dinge zum Besseren verändern“, wie zum Beispiel im Handel, verloren sie ihren Job. Wenn man ihnen jetzt sagt: „Die Wende zugunsten des Klimas, das ist wunderbar, weil Ihre Kinder besser atmen werden, aber Sie müssen noch den Preis dafür bezahlen, denn wir werden Ihren Job und Ihr Leben verändern, aber nicht das Leben der Mächtigen und Reichen, denn die wohnen in schönen Vierteln, fahren sowieso nicht Auto und können weiterhin problemlos bis ans andere Ende der Welt fliegen“, dann wird das nicht klappen.
Es geht also auch um eine Neuausrichtung, darum, wie wir unsere Ziele neu ausrichten. Was wir bewerkstelligen müssen, sind gute Strategien, die richtige öffentliche Politik, gute Investitionen, gute Anreize. Dazu kommt eine, ich würde sagen – im besten Sinne –politische, anthropologische Arbeit, die darin besteht, die Gesellschaft in diese Veränderung zu führen, sie daran teilhaben zu lassen. Danach sollte unsere ganze Agenda diesbezüglich auf ihre Stimmigkeit geprüft werden. Und im Paris-Konsens ist das ein Kernpunkt. Wenn wir weiterhin ein Finanzsystem haben, das Gutes für unseren Planeten nicht von Schlechtem unterscheidet, können die Regierungen niemals ausreichend handeln. Um diese Wende zu vollziehen, wäre ich dafür, auf europäischer Ebene und auf den Finanzmärkten Regeln einzuführen – wie es uns im Bereich der Banken- und Finanzmarktregulierung bereits gelungen ist –, durch die Investitionen in fossile Brennstoffe verteuert und umweltschützende Investitionen gefördert werden. Die Integration des europäischen Marktes sollte auf diese Weise stattfinden. Wir müssen europäische Öko-Anleihen schaffen, wir müssen ein System zustande bringen, das für diese Aktivitäten einen viel stärkeren Anreiz schafft.
Und im gleichen Sinne müssen wir auch unsere Handelsagenda angleichen. Wenn wir alle Regeln ändern, wenn wir Opfer verlangen und danach Handelsabkommen mit anderen Ländern der Welt schließen – und Sie werden sehen, das Problem wird sich mit der neuen US-Regierung auch stellen –, die nicht die gleichen Ansprüche stellen, sind wir zum Scheitern verurteilt! Das heißt, Sie werden Ihrem Landwirt sagen: „Du musst dich ungeheuer anstrengen, du wirst auf Glyphosat verzichten, du sollst gar keine Pestizide mehr verwenden, du musst dies und das machen.“ Er wird es tun, weil er der Ansicht ist, dass es gut ist. Und auf der anderen Seite schließen wir ein Abkommen, durch das wir uns öffnen und Produkte einführen, die mit GVO, Pestiziden und anderem produziert werden, weil das ja Handel ist? Alles hängt zusammen und die Leute bemerken das natürlich. Wir brauchen also Handelsabkommen, die mit unserer Klimaagenda im Einklang stehen, und das wird ein harter Kampf. Und diesbezüglich gibt es noch keinen EU-weiten Konsens. Ich setze mich aber sehr dafür ein. Wir haben das 2019 im europäischen Wahlkampf versucht. Und da gibt es große
Unterschiede. Denn manche Länder bleiben bei ihrem Programm, das Offenheit und freien Handel beinhaltet, was ich respektiere. Nur bleibt dabei die Veränderung des Handels sekundär. Ich glaube nicht, dass das im Sinne der Effizienz schlüssig ist, und vor allem ist es politisch nicht tragbar – politisch. Ich glaube nicht, dass man in der Gesellschaft Konsens schaffen kann, wenn man Bürgern und Unternehmen diese Anstrengung abverlangt und gleichzeitig auf internationaler Ebene das Gegenteil befürwortet.
Unsere letzte Frage betrifft Ihre Vision der Staatstheorie und der Souveränität. Lässt sich das westfälische Souveränitätsprinzip mit dem Klimawandel vereinbaren?
Ja, denn ich für meinen Teil habe kein besseres System gefunden, als das westfälische Souveränitätsprinzip. Wenn dahinter der Gedanke steht, dass ein Volk innerhalb einer Nation seine Führung wählt und dass es Leute gibt, die über seine Gesetze abstimmen. Ich denke, das lässt sich durchaus miteinander vereinbaren, denn wer sollte sonst entscheiden? Wie soll sich ein Volk bilden und entscheiden? Ich weiß nicht. Die Krise, in der unsere Gesellschaft steckt, ist vielmehr eine Krise der Verantwortung. Niemand will mehr Entscheidungen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen, weil wir gewissermaßen ständig diskutieren und sich jeder in Legitimationskonflikten befindet. Es ist sehr schwer, zu entscheiden, denn man steht vor Wahlmöglichkeiten. Aber wir werden die Souveränität der Völker immer brauchen. Mir jedenfalls liegt viel daran. Und in Bezug auf das, was ich vorhin über die anstehenden Kämpfe gesagt habe, sollten wir das nie aufgeben. Wen würden Sie denn damit beauftragen, die Gesetze in einer Gesellschaft zu machen, wenn es nicht Führungspersönlichkeiten sind, die Sie selbst wählen? Unternehmen? Den Lauf der Welt? Führungspersönlichkeiten, die nicht gewählt wurden, aber aufgeklärt sein sollen? Ich selbst bin für keines dieser Systeme. Ich möchte jeden Tag wählen können, sowie jedes Mal, wenn ich zu Wahlen aufgerufen werde; es ist mir wichtig, dass diese regelmäßig und ordnungsgemäß stattfinden und dass es ein offenes System ist. Und täuschen Sie sich nicht: Wir brauchen das System nicht nur, wir müssen es auch effizient machen. Um Effizienz zu erreichen, müssen wir den Konsens, über den wir vorhin gesprochen haben, ideologisch neu gestalten und Ergebnisse erzielen.
Das westfälische System und die Demokratien, die daraus hervorgehen, erleben heute eine doppelte Krise. Viele Probleme sind nicht mehr auf der Ebene der Nationalstaaten zu lösen, das stimmt, deswegen brauchen wir Kooperation, aber Zusammenarbeit bedeutet nicht zugleich Auflösung des Volkswillens. Kooperation muss durchdacht werden. Die zweite Krise, die wir erleben, betrifft die Effizienz der Demokratien. Schon seit einigen Jahrzehnten geben die westlichen Demokratien ihren Völkern das Gefühl, Probleme nicht mehr lösen zu können, weil sie in ihren Gesetzen verfangen sind, in ihrer Komplexität verhaftet – das erlebe ich meinerseits täglich – das heißt in ihrer Ineffizienz. So werden daraus Systeme, mit denen wir Leuten erklären, wie die Dinge ablaufen sollten, die sie an uns herantragen. Und sie sagen: „Sie können den Fortschritt nicht regeln, die Sicherheit nicht gewährleisten, und anderes“. Wir müssen wieder zu mehr Effizienz finden, über Kooperationsmechanismen, aber auch indem wir an unseren Strukturen rütteln, um nutzbringende Wirkungen zu erzielen. So ließe sich die Krise der Demokratien auf den Punkt bringen: Es ist eine Krise der Handlungsebenen und eine Krise der Effizienz. Aber ich glaube überhaupt nicht, dass es eine Krise des westfälischen Souveränitätsprinzips ist. Denn das ist mir wichtig und ich glaube nicht, dass es etwas Besseres gibt. Und im Übrigen bleibt das Primat der Souveränität der Völker in allem, was ich auf internationaler Ebene unternehme, bestehen. Jedes Mal, wenn davon abgewichen wurde, hat man eher Unordnung gestiftet. Ich bin diesem Prinzip also tief verbunden. Zutiefst.
Aber deswegen muss man gleichzeitig die ideologische Arbeit machen, von der ich schon eine Weile spreche. Denn die Krise, die unsere Mitbürger durchmachen, ist eine Art Aufspaltung der Räume: Der Bürger kann sich als Verbraucher, als Arbeitender und als Gewissen nicht mehr zusammendenken. Weil man zu einem gewissen Zeitpunkt alles globalisiert hat, gibt es Interaktionen, die die Dinge zusammenhangslos machen. Und der Bürger, der den Klimawandel bekämpfen will, steht nicht mehr im Einklang mit dem Verbraucher, der alles zu Billigpreisen haben will, mit dem Arbeitenden, der ein Werk haben will, damit sein Sohn in seiner Nähe arbeiten kann. Das haben wir nicht miteinander verbinden können. Und das sollte der neue Konsens möglich machen, indem er die Verträglichkeit unserer Klima- und Technologieagenda sowie unsere Souveränität in die Betriebsfähigkeit der Unternehmen, in unser Finanzsystem, in unsere Politik integriert. Wir sprechen hier über eine riesige Herausforderung. Aber wir haben sie Schritt für Schritt angenommen. Entmutigung entsteht manchmal, wenn man mitten in den Bauarbeiten das künftige Bauwerk noch nicht sieht, weil man noch zu weit davon entfernt ist. Ich denke also, dass wir diesen Weg weitergehen sollten. Die großen Umwälzungen sollten uns dazu führen, weiterhin erfinderisch zu bleiben. Neue Kooperationen zu finden, Risiken aufzunehmen, die großen Wendepunkte zu verstehen und zu durchdenken, aber sie sollten uns nicht dazu führen, auf unsere Grundsätze zu verzichten: die Souveränität der Völker und die Rechte und Freiheiten, die zu unseren Grundgütern gehören. Denn diese sind bedroht.
Und zu dem, was Sie ansprechen, sagen viele Leute tatsächlich: Lösen wir die nationale Souveränität auf, die großen Unternehmen sollen über den Lauf der Welt entscheiden; andere sagen: Die frei ausgedrückte Souveränität des Volkes ist nicht so zielführend wie ein aufgeklärter Diktator oder Gottes Gesetz. Und heute bemerken wir eine Rückkehr zu theokratischen und zu autoritären Regimen. Sehen Sie sich die heutige Welt im Vergleich zu der vor fünfzehn Jahren an: Die Welt sieht heute ganz anders aus. Die demokratische Souveränität des Volkes ist ein kostbares Gut, das man schützen sollte.
Danke.
Ich danke Ihnen. Was mir in der heutigen Lage sehr wichtig ist – und Ihre Arbeit spielt in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle – ist, dass wir weiter über diese Themen nachdenken, einen Dialog und einen Prozess in die Wege leiten. Es muss uns gelingen, über Ihre Beiträge und Gedanken diese Debatte überall in Europa weiterzuführen und unser gemeinsames Interesse sowie die Dynamik unserer Vorschläge zu verwirklichen. Ich glaube jedenfalls, dass wir die Welt neu erfinden müssen. Das tun wir bereits, aber wir müssen es klarer herausstellen.
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